Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
er wohnt, ich habe nur eine ganz allgemeine Personenbeschreibung. Aber es gibt eine Person, die ihn identifizieren kann. Das Mädchen hat ihn nur ein einziges Mal gesehen, aber es besitzt einen professionellen Blick für Gesichter und die äußeren Merkmale einer Person.«
Knüppelchen nickte erneut, sein Gesichtsausdruck besagte, daß er aufmerksam zuhörte.
»Ich möchte dem Mädchen zur Identifizierung des Mannes die Fotos aller Personen vorlegen, die nach dem 29. September in Moskau ermordet wurden. Am besten wären Aufnahmen, die die Personen lebend zeigen. Zum Beispiel Paßfotos aus dem Archiv. Wenn es sich um jemanden handelt, der nicht in Moskau geboren wurde, muß ich natürlich das Foto der Leiche verwenden.«
Gordejew fuchtelte mit den Armen und machte runde Augen. Wo liegt das Problem? sollte das heißen. Raus damit!
»Mein Problem ist immer dasselbe«, seufzte Nastja schuldbewußt. »Ich habe keine Kraft, von Dienststelle zu Dienststelle und von Untersuchungsführer zu Untersuchungsführer zu fahren, um diese Fotos zu suchen. Außerdem werden Sie mir ja bestimmt nicht einen ganzen Tag freigeben.«
Es folgte erneut ein zustimmendes Nicken. Nein, bedeutete das, natürlich gebe ich dir nicht frei. Hier türmt sich die Arbeit bis unter die Decke, und du willst in der Arbeitszeit irgendwelchen Hirngespinsten nachlaufen.
»Ich kann nicht in der ganzen Stadt herumfahren, von einem Ende zum anderen«, fuhr Nastja ungerührt fort, so als hätte sie den Gesichtsausdruck ihres Chefs nicht bemerkt, »da macht mein Rücken nicht mit. Aber wenn das Mädchen den Mann identifiziert, wird uns das wahrscheinlich sehr dabei helfen, den Mord an Maluschkin aufzuklären. Wir sind für diesen Fall nicht zuständig, aber immerhin handelt es sich um einen Kollegen, und wenn wir helfen können, dann wäre es doch eine Sünde, es nicht zu tun. Was meinen Sie?«
Gordejew winkte resigniert ab, nahm ein Formular und begann, es auszufüllen. Anschließend schrieb er eine lange Notiz und heftete sie mit einer Büroklammer an das Formular. Zuletzt schrieb er noch einen Zettel für Nastja.
»Du bist schon über dreißig, zur Umerziehung ist es zu spät. Man sollte Dir den Hintern mit dem Riemen versohlen für deine Faulheit, aber ich fürchte, auch das würde nichts nutzen. Mach Deine Sache. Ich wünsche Dir Glück.«
2
Am Abend des nächsten Tages breitete Nastja erneut Fotografien vor Dascha aus, nun aber andere als beim ersten Mal. Sie standen hinter dem zugezogenen Vorhang einer Umkleidekabine des »Orion« und benutzten statt eines Tisches zwei eng nebeneinander gestellte Stühle.
»Nein, er ist nicht dabei«, sagte Dascha schließlich, nachdem sie über hundert Fotos angesehen hatte.
»Laß es uns noch einmal versuchen, Dascha«, bat Nastja. »Laß dir Zeit, sieh genau hin. Es kann nicht sein, daß er nicht dabei ist. Hol mir etwas zum Anprobieren, damit unsere Freunde auf der Straße nicht unruhig werden, und fang noch einmal von vorn an.«
Aber auch der zweite Versuch blieb erfolglos. Dascha Sundijewa war fest davon überzeugt, daß keines der vorgelegten Fotos den Mann zeigte, der sie in der Metro belästigt hatte. Dascha war von diesem Ergebnis nicht weniger enttäuscht als Nastja.
»Ist es schlecht, daß ich ihn nicht identifiziert habe?« fragte sie schüchtern.
»Natürlich ist es schlecht.« Nastja lächelte gequält. »Das bedeutet, daß ich in Wahrheit viel dümmer bin, als ich aussehe und denn erscheine.«
»Wie haben Sie das ausgedrückt?« Dascha brach in Gelächter aus.
»Das habe nicht ich so ausgedrückt, sondern Igor Guberman, ein großartiger Dichter. Ist gut, Daschenka, ich muß mich damit abfinden, daß ich mich geirrt und daß ich den Reinfall verdient habe. Vergessen wir alles Bisherige, und beginnen wir noch einmal von vorn.«
Sie ging langsam über den Twerskoj Boulevard in Richtung Metro. Heute stand Kostyrja als Beschatter vor dem Geschäft. Für einen Moment überfiel Nastja wieder das Gefühl heftiger Beunruhigung, sie bemerkte ein Signal, das ihr das Unterbewußtsein sandte, aber ihr Kopf war jetzt mit anderen Dingen beschäftigt.
Dascha hatte den Gesuchten unter den Mordopfern nicht erkannt, und das bedeutete, daß Nastjas ganzes Szenario von Anfang an falsch war. Sie ging davon aus, daß Dascha für jemanden eine ernsthafte Gefahr darstellte und daß deshalb ihre Kontakte überprüft wurden, wenn auch nicht alle, sondern nur einige, und die mußten also irgendeinen gemeinsamen
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