Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
Mann doch noch am Leben? Fragen über Fragen . . .
»Sind Sie eingeschlafen?«
Nastja schrak zusammen, öffnete die Augen und erkannte Bokr, der in seinem langen grauen Mantel, mit der blau-grau gestreiften Wollmütze auf dem Kopf vor ihr stand.
»Was machen Sie denn hier, Bokr?«
»Ich bewache Sie. Ich bringe gerade eine neue Videokassette als Nachschub zu dem Kumpel, der Kostyrja auf Schritt und Tritt filmt, und was sehe ich? Heilige Mutter! Anastasija Pawlowna selbst kommt aus dem Geschäft heraus! Und irgendwie sieht sie müde und krank aus, schleift die Füße hinter sich her, und das Gesichtchen ist ganz blaß. Guter Gott, denke ich, meine Arbeitgeberin wird doch nicht etwa krank geworden sein?! Gleich kippt sie um. Ed von Burgund reißt mir den Kopf ab, denke ich, wenn ihr etwas passiert. Und dann kriege ich es auch noch von Onkel Tolja. Also bin ich Ihnen nachgegangen, ganz leise und unauffällig, um Ihnen, sozusagen, zu helfen, wenn es nötig ist. Also, Anastasija Pawlowna, was ist?«
»Was soll sein?«
»Brauchen Sie Hilfe?«
»Ja. Bringen Sie mich bitte nach Hause. Haben Sie ein Auto?«
»Sie beleidigen mich, Chefin. Denissows Leute haben alles, sogar eigene Flugzeuge, wenn es nötig ist. Obwohl ich persönlich weder Haus noch Hof besitze. Und ein eigenes Auto natürlich auch nicht. Also, gehen wir?«
Sie traten zusammen hinaus auf den Twerskoj Boulevard, und sofort hielt neben ihnen ein unauffälliges Auto inländischen Fabrikats. Am Steuer saß ein fröhlicher, schnurrbärtiger Bursche, rund wie ein Pfannkuchen, eine Mütze mit einem Pompon auf dem Kopf. Er war das absolute Gegenteil von Bokr. Während letzterer nur aus Grautönen bestand, schien dieser einem farbenprächtigen Trickfilm entsprungen zu sein. Die rot-grüne Jacke und das rote Mützchen mit dem grünen Pompon stachen so ins Auge, daß man dem Gesicht keine Beachtung mehr schenkte. In Verbindung mit dem himmelblauen Seidenschal, der weich über das gewölbte Bäuchlein floß, ergab das, um mit Bokrs Worten zu sprechen, ein völliges Perdimonokel. Sehr klug, dachte Nastja. Einem, der so angezogen ist, schaut niemand ins Gesicht. Und in anderer Kleidung erkennt ihn niemand wieder.
Sie machte es sich auf dem Rücksitz bequem, in seitlicher Sitzhaltung konnte sie sogar die Beine ausstrecken. Bokr hatte auf dem Beifahrersitz Platz genommen. Während der Fahrt schwieg er, erst als das Auto sich dem Haus in der Stschelkowskij-Chaussee näherte, fragte er:
»Wann soll ich zur Berichterstattung zu Ihnen kommen?«
»Jetzt gleich«, schlug Nastja vor. »Wir essen zusammen zu Abend, und Sie erzählen mir alles.«
Bokr schüttelte entschieden den Kopf.
»Nein, geben Sie mir einen Termin. Ruhen Sie sich aus, essen Sie, und ich erscheine, wenn es an der Zeit ist.«
»Aber warum wollen Sie nicht gleich mitkommen?« fragte Nastja beharrlich nach. »Warum wollen Sie wegfahren und noch einmal wiederkommen, wenn Sie schon hier sind?«
Doch Bokr erwies sich als erstaunlich hartnäckig.
»Geben Sie mir einen Termin«, wiederholte er, und Nastja begriff plötzlich, daß es sinnlos war, ihn überreden zu wollen. Er würde niemals mitkommen und mit ihr zu Abend essen. Er kannte genau seinen Platz und wahrte Abstand zu einer Beamtin der Kripo. Er war bereit, für sie zu arbeiten, mit ihr zu scherzen, ihr sogar sein Mitgefühl zu zeigen und zu helfen. Aber an einen Tisch wollte er sich nicht mit ihr setzen.
»Ist gut«, sagte sie, »kommen Sie in einer Stunde.«
3
General Vakar stellte sich ans Ende einer endlos langen Schlange auf dem Postamt. Aus irgendeinem Grund gab es nur einen Schalter für Geldüberweisungen und Rentenauszahlungen, und es ging deshalb so langsam voran, weil die Rentner mit ihren schlechten Augen und zitternden Händen eine halbe Stunde brauchten, bis sie den erhaltenen Betrag in die Karte eingetragen hatten, und dann fragten sie zehnmal verständnislos nach, warum sie in diesem Monat weniger Rente bekommen hatten als im letzten.
Seit fast einem Jahr stand Vakar einmal im Monat in dieser Schlange und überwies Geld an eine Frau, die er nicht kannte, die er nur einige Male gesehen hatte. Aber er wußte, daß er es tun mußte, daß es seine Pflicht war.
In letzter Zeit hatte er begonnen, das Wort Pflicht zu hassen. Fast ein halbes Jahrhundert lang war es das Wort gewesen, das Vakars Persönlichkeit bestimmt hatte, das ihn davor bewahrt hatte, in die Knie zu gehen, zu zerbrechen, sich zu verlieren, so wie es seiner Lisa
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