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Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen

Titel: Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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Woche werden wir bereits anderthalb Millionen Dollar auf unserem Konto haben und können langsam daran denken, unsere Koffer zu packen, um von hier zu verschwinden.«
    »Ich weiß nicht, Häschen, irgendwie habe ich diesmal ein ungutes Gefühl«, sagte Irina. »Sollten wir nicht abwarten, bis wir hundertprozentig sicher sind?«
    »Wir können nicht mehr warten«, antwortete Artjom. Allmählich wurde er ungeduldig. »Begreifst du das denn nicht? Sewa sitzt mir im Nacken, er braucht das Geld auch so schnell wie möglich, weil er selbst auf dem Absprung ins Ausland ist. Wenn ich ihm die Ware nicht abnehme, sucht er sich einen anderen Abnehmer. Und wo finde ich dann einen anderen Sewa? Auch der Kunde setzt mir die Pistole auf die Brust, wenn wir noch länger zögern, wendet er sich an einen anderen Lieferanten – und aus der Traum. Wir verdienen keinen einzigen Cent mehr, und alle unsere Pläne sind dahin.«
    »Gut, Häschen, du weißt es besser«, seufzte Irina, holte das Besteck aus der Schublade und begann, den Tisch zu decken.
    6
    Vakar genoß das Alleinsein in der leeren Wohnung. In der letzten Zeit hatte er dazu selten Gelegenheit gehabt. Lisa verfiel immer öfter in Depressionen, sie saß zu Hause, geisterte wie ein Schatten durch die Wohnung und bedrängte Vakar mit dem stummen Vorwurf in ihren Augen. Seine Frau hüllte sich nicht länger in eisiges Schweigen, sie sortierte demonstrativ die Sachen und Bilder ihres Sohnes und erging sich in lauten Selbstgesprächen über ihr Lieblingsthema. Die Kinderseele, die keine Ruhe finden konnte, die Unfähigkeit des Vaters, die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Wladimir Sergejewitsch war so wenig wie möglich zu Hause, er blieb bis spätabends im Büro oder beschattete Jerochin. Heute war Donnerstag, Lisa war zu Dmitrij Sotnikow gegangen, auch seine Frau hatte das Haus verlassen, und ein paar Stunden lang konnte Vakar frei atmen.
    Die Frist, die Jelena ihm gesetzt hatte, war schon fast abgelaufen, und er wußte bereits, wann und wie er seine schwere, qualvolle, aber unvermeidliche Pflicht erfüllen würde. Heute konnte Wladimir Sergejewitsch es sich erlauben, zu Hause zu bleiben. Ohne Eile brachte er seine Alltags- und seine Paradeuniform in Ordnung, kontrollierte Mantel und Pelzmütze. Anfang November fand die alljährliche Truppenbesichtigung in Winterausrüstung statt. Danach sortierte er endlich die Papiere in seinem Schreibtisch, zerriß alles Überflüssige und warf es in den Papierkorb. Den Rest verteilte er in sorgfältig beschrifteten Aktenordnern. In der Tiefe seines Schreibtisches stieß er auf seine alten Schulterstücke, die er einst als Oberst getragen hatte, und mit Wehmut dachte er daran, daß er niemals in eine Uniformjacke geschlüpft war, deren Schulterstücke von Jelenas Hand angenäht waren. Die Ehefrauen aller seiner Offizierskollegen verfolgten die militärische Laufbahn ihrer Männer mit aufgeregter Anteilnahme und hielten das Annähen des neuen, mit einem zusätzlichen Stern verzierten Schulterstückes für ihre heilige Pflicht. Nur Jelena wußte nie so richtig Bescheid, wann ihrem Mann ein neuer Dienstgrad verliehen wurde und wann die nächste Beförderung zu erwarten war. Den Rang des Obersten hatte man ihm vorzeitig verliehen, und als eine der Offiziersfrauen ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck brachte, daß Vakar bereits mit sechsunddreißig Jahren Oberst geworden war, hatte Jelena nur gleichmütig mit den Schultern gezuckt. Ja, wirklich? hatte sie gesagt. Ist das nicht immer so? Ich verstehe nichts von diesen Dingen.
    Nach dem Ordnen der Papiere setzte Vakar sich mit Genuß an den aufgeräumten Tisch und verbrachte zwei Stunden damit, die Vorlesung für den nächsten Tag vorzubereiten. Er besaß viel neues Material, das er ordnen und systematisieren mußte, er überlegte sich didaktische Vorgehensweisen, überprüfte Karten und Skizzen, veränderte und ergänzte das eine und andere. Erst danach erlaubte er sich, sich mit einem Buch aufs Sofa zu legen. Doch er konnte nicht lesen. Seine Gedanken kreisten um Jerochin und sein eigenes, so aussichtslos verfahrenes Leben.
    Das Geräusch des Schlüssels in der Tür zwang ihn, sich zu erheben. Er gestattete es sich nie, in Gegenwart seiner Frau oder seiner Tochter auf dem Sofa zu liegen.
    Jelena betrat das Zimmer.
    »Du bist zu Hause?« fragte sie mit einer Verwunderung, als wäre es die einzige Bestimmung ihres Mannes, sich auf den Straßen herumzutreiben, um den letzten der vier Mörder zu

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