Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
es schließlich vollkommen niedergeschlagen. Die präzisen Fragen und gnadenlosen Einschätzungen Gordejews hatten ihre Zweifel an ihren Möglichkeiten noch vertieft. Warum hatte sie sich auf all das eingelassen? Und warum war ihr Halbbruder Sascha mit seinen Problemen zu ihr gekommen?!
Doch im selben Moment fiel ihr Dascha ein, der Schlimmes hätte zustoßen können, wenn man sie ihrem Schicksal überlassen hätte. Und der junge, rotbackige Kostja Maluschkin fiel ihr ein, dessen gewaltsamer Tod für immer ein weißer Fleck geblieben wäre, wäre nicht Sascha mit seinen Sorgen zu ihr gekommen.
4
In der fernen asiatischen Stadt brach die Nacht herein, doch die Arbeit im Labor lief auf Hochtouren. Die Versuche mußten bis zum ersten Januar abgeschlossen sein, und der Termin war so knapp bemessen, daß die Arbeit weder an den Wochenenden noch in den Nächten ruhen durfte.
Im Büro des Chefs herrschte dichte Stille. Die schallisolierten Wände ließen kein Geräusch hindurch, und der Raum besaß keine Fenster. Der Chef, ein dicker, krankhaft aufgeschwemmter Mann mit schütterem kastanienbraunem Haar und klobiger Nase schrieb etwas in einen Notizblock. Nein, es war vollkommen unmöglich, die Versuche rechtzeitig abzuschließen, wenn sich die Rohstofflieferungen weiterhin verzögern würden. Wenn die Versuchsergebnisse der nächsten drei, vier Tage zeigen würden, daß eine neue Variante des Geräts erarbeitet werden mußte, würde man ohne neuen Rohstoff nicht auskommen, und die Reserven waren alle verbraucht. Man würde den zugesagten Termin nicht einhalten können, und das würde eine empfindliche Honorareinbuße nach sich ziehen. Und weitere Verzögerungen würden zu noch größeren Unannehmlichkeiten führen.
Mike Steinberg, der vor kurzem noch Mischa oder Michail Markowitsch hieß und seine ganze Kindheit in der westlichen Ukraine, in Lwow, verbracht hatte, befand sich illegal in Asien. Er besaß weder einen Paß noch eine Aufenthaltsgenehmigung, noch die Staatsbürgerschaft. Alles das sollte er bekommen, wenn es ihm gelang, das Projekt rechtzeitig und erfolgreich abzuschließen. Gelang es ihm nicht, würde man ihm ganz einfach einen Tritt geben, vorher würde man ihn mit irgendeinem Medikament vollpumpen, das sein Verhalten so verändern würde, daß er sehr schnell von der Polizei aufgegriffen und im Irrenhaus landen würde. Damit würde das Leben des begabten Wissenschaftlers Mike Steinberg enden und die sinnlose Existenz eines Geisteskranken ohne Namen, ohne Familie und ohne Vergangenheit beginnen. Man hatte ihn darüber aufgeklärt, daß er sich in einem Land befand, in dem Gesetze und Menschenrechte nur sehr vage, verschwommene Begriffe waren, so daß er im Fall drastischer Maßnahmen, die gegen ihn ergriffen werden müßten, nicht mit dem Schutz des Staates zu rechnen hätte.
In der Tat wußte er nicht einmal genau, wo er sich befand. Er war geldgierig und selbstgewiß, und man hatte ihn einfach gekauft, wie einen Gegenstand auf einem Basar, man hatte ihn sofort gegriffen, als er auf dem Flughafen von Tel Aviv aus dem Flugzeug gestiegen war. Er war allein nach Israel ausgewandert, seine alten Eltern hatten sich kategorisch geweigert, Lwow zu verlassen, seine Frau hatte sich vor langer Zeit von ihm getrennt und nahm keinen Anteil mehr am Leben ihres geschiedenen Mannes. Seine historische Heimat hatte Mischa nach seiner Ankunft kaum zu Gesicht bekommen, sein Aufenthalt im Gelobten Land dauerte ganze vier Tage, die er in einem Hotel am Flughafen verbrachte. In diesen Tagen hatte man ihn geschickt bearbeitet, indem man sich seinen Hunger nach Geld zunutze machte, seine Angst vor Arbeitslosigkeit und Armut, seine Eitelkeit als Wissenschaftler. Man nahm ihm die Papiere ab und setzte ihn schließlich mit vier Begleitpersonen in ein Flugzeug nach Kanada. Die weitere Reise fand ausschließlich in Privatflugzeugen statt, deren Crews sich nicht gerade durch Gesprächigkeit auszeichneten. Seine Begleitpersonen hingegen waren sehr höflich und aufgeschlossen, wenn auch in bestimmten Grenzen. Deshalb konnte Mike Steinberg, als man ihn in das riesige unterirdische Labor brachte, nur raten, wo er sich befand, ob in China, Korea, Japan, Australien oder auf den Malediven. Irgendwann begriff er, daß er sich irgendwo in Asien aufhielt, aber wo genau – das blieb ihm ein Rätsel. Den Mitarbeitern des Projekts schien es auf Leben und Tod verboten zu sein, mit dem Versuchsleiter ein Wort zu wechseln, das über
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