Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
bitten . . .«
»Ich höre, Anastasija Pawlowna.«
Er unterbrach seine Wanderung durch das Zimmer und blieb direkt vor dem Sessel stehen, in dem Nastja saß.
»Ich fürchte, daß Vakar drauf und dran ist, Jerochin umzubringen. Bitte behalten Sie ihn so gut wie möglich im Auge. Wenn Sie den Eindruck haben, daß die Sache heiß wird, mischen Sie sich bitte sofort ein. Mit allen Mitteln. Rufen Sie mich zu Hilfe, packen Sie ihn an Händen und Füßen, und halten Sie ihn fest, tun Sie, was immer Ihnen einfällt, aber lassen Sie nicht zu, daß er noch einen Mord begeht.«
»Haben Sie etwa Mitleid mit Jerochin?« fragte Bokr mit einem sarkastischen Lächeln.
»Nein. Ich habe Mitleid mit Vakar. Er tut mir schrecklich leid«, sagte sie leise. »Ich möchte nicht, daß er hinter Schloß und Riegel kommt. Daran wird niemand Freude haben.«
»Und die Rechtsprechung? Die Rechtsprechung ist schließlich nicht dazu da, jemandem Freude zu bereiten, sondern dazu, für Gerechtigkeit zu sorgen. Oder etwa nicht, Anastasija Pawlowna?«
»Ich weiß es nicht, Bokr.« Nastja schüttelte verzagt den Kopf. »Der Rechtsprechung ist es nicht erlaubt, zu sehen, sie ist blind, Justitias Augen sind verbunden. Doch die Blindheit hat noch nie jemandem geholfen, die richtige Entscheidung zu treffen. Ich weiß nichts mehr, nichts, nichts, überhaupt nichts mehr!« Nastja schlug sich mit der Faust aufs Knie und brach in verzweifelte Tränen aus.
6
Sie saßen wieder in demselben stillen Hof, in dem sie sich zum ersten Mal unterhalten hatten. Diesmal hatten sie sich am Tag getroffen, abends hatte Wladimir Sergejewitsch keine Zeit. Als Nastja ihn anrief, versuchte er nicht, ein Treffen mit ihr abzuwehren. In trockenem, sachlichem Tonfall vereinbarte er mit ihr Ort und Zeit ihrer Verabredung.
»Haben Sie über unser letztes Gespräch nachgedacht?« fragte Nastja.
»Ja, ich habe nachgedacht.«
»Haben Sie Ihre Meinung geändert, oder lehnen Sie es nach wie vor ab, mit mir über Jerochin zu sprechen?«
»Ich habe meine Meinung nicht geändert«, sagte Vakar mit monotoner, irgendwie hölzerner Stimme.
»Hören Sie mich an, Wladimir Sergejewitsch. Ich verstehe Ihren Schmerz. Aber Rache hat noch nie im Leben etwas verändert. Sie kann Zerstörtes nicht wiederherstellen. Sie sind Offizier mit Kriegserfahrung, Sie waren 1968 in der Tschechoslowakei, Sie waren in Afghanistan, Sie haben in Berg Karabach gekämpft. Sehen Sie, ich habe Ihre Laufbahn als Offizier studiert, und ich kann nicht glauben, daß Sie nicht verstehen, daß Rache nur ein schönes Wort ist, daß sie nur dann Sinn ergibt, wenn sie vom Schicksal selbst ausgeht und den Schuldigen etwas lehren kann. Rache, die von Menschenhand geübt wird, stürzt die Beteiligten immer nur in gegenseitigen Vergeltungszwang. Und Tote können nichts mehr lernen, nichts mehr begreifen, deshalb ist Rache sinnlos. Sind Sie mit mir einverstanden?«
»Als Offizier zweifellos.«
»Und als Vater?«
»Als Vater auch.«
»Warum dann das alles, Wladimir Sergejewitsch?«
Er schwieg.
»Gut, lassen wir das Vergangene ruhen, sehen wir uns die gegenwärtige Situation an«, fuhr sie fort. »Wissen Sie, was Ihre Frau vorhat?«
Er nickte schweigend.
»Ich ahne, was hier vor sich geht. Es ist Ihre Frau, die Sie zum Mord an Jerochin zwingen will. Andernfalls will sie die Sache selbst in die Hand nehmen. Ist es so?«
»Sie sind erstaunlich scharfsinnig«, sagte Vakar mit unverändert hölzerner Stimme.
»Und wenn ich Ihnen verspreche, daß aus der Sache nichts wird?«
»Weil Sie meine Frau unter Anklage stellen werden?«
»Nein. Weil ihr Plan einfach scheitern wird.«
»Das ist auch keine Lösung. Sie wird keine Ruhe geben, solange Jerochin am Leben ist.«
»Sogar dann, wenn er für fünfzehn Jahre ins Gefängnis geht?«
»Sogar dann. In diesem Fall werde ich nur einen Aufschub von fünfzehn Jahren bekommen. Und es wäre unmoralisch, darauf zu hoffen, daß meine Frau innerhalb dieser fünfzehn Jahre stirbt. Ich bin bereit, für alles, was ich getan habe, die Verantwortung zu übernehmen. Sofern es Ihnen gelingt, mir meine Schuld zu beweisen«, fügte er mit einem spöttischen Lächeln hinzu.
Er ist wirklich wie aus Eisen, dachte Nastja verzweifelt. Was muß ich tun, um ihn zu erreichen? Ich habe noch einen Versuch.
»Wladimir Sergejewitsch, versuchen Sie einmal, die Sache von einer anderen Seite zu betrachten. Die Tragödie Ihrer Familie besteht darin, daß die Mörder Ihres Sohnes für ihre Tat nicht
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