Anastasija 04 - Tod und ein bisschen Liebe
kann nie etwas Genaues sagen. . .«
Aber ich bin fünf Jahre alt, und mir mißfällt die unberechenbare, ungewisse Welt, in der man nie etwas Genaues sagen kann. Ich bin ein Kind, und ich will Gewißheit. Ich will Gewißheit, daß Mutter und Vater immer da sein werden, daß mein warmes kleines Bett immer da sein wird, mein Stoffhase neben dem Kissen, das Märchen vor dem Einschlafen, der Apfelsaft am Morgen und Großmutters Kuchen an den Samstagen. Ich will genau wissen, daß man mich loben wird, wenn ich jeden Tag meine Zähne putze, wenn ich danke und bitte sage und brav bin, und daß man mich bestrafen wird, wenn ich nicht gehorche und etwas kaputtmache. Aber wenn es unterschiedliche Situationen gibt, wenn alles nicht so einfach ist und man nichts mit Bestimmtheit sagen kann – wird man mich dann womöglich für gutes Benehmen bestrafen und für schlechtes loben? Mein fünf Jahre altes Gehirn kann diese Frage nicht lösen. Und ich werde wütend.
Ich bin acht Jahre alt. . . Meine Eltern haben mich ins Kino mitgenommen, und ich schaue mit ihnen zusammen auf die Leinwand, wo ein unverbesserlicher Verbrecher, der aus dem Gefängnis ausgebrochen ist, einem Menschen das Leben rettet und dabei selbst umkommt. Meine Mutter wischt sich heimlich die Tränen ab, aber ich kann nicht verstehen, warum sie traurig ist.
»Mama, tut er dir leid?« frage ich, als wir durch den warmen, duftenden Frühlingsabend nach Hause gehen.
»Natürlich, mein Liebling«, sagt meine Mutter.
»Aber er ist doch ein Verbrecher«, protestiere ich hitzig. »Er ist doch aus dem Gefängnis ausgebrochen. Warum sollte er einem leid tun? Es geschieht ihm recht, daß er gestorben ist.«
»Siehst du, mein Kind«, beginnt mein Vater mit seiner üblichen Rede, »alles ist nicht so einfach. Es gibt keine absolut schlechten Menschen und keine absolut guten. Natürlich ist er ein Verbrecher, aber er hat einem Mädchen das Leben gerettet. Also ist er letztlich doch ein guter Mensch. Man kann nie genau sagen. . .«
Aber das gefällt mir nicht. Ich brauche genaue Vorstellungen, um mich in der Welt der Erwachsenen nicht zu verirren und zu verlieren. Ich will genau wissen, welche Menschen als gut und welche als schlecht gelten. Ich will genau wissen, was man darf und was nicht, wofür man gelobt und belohnt wird und wofür streng bestraft. Ich suche dieses Wissen, sammle es Körnchen für Körnchen, indem ich meinen Eltern tausend Fragen stelle, aber sie können einfach nicht verstehen, was ich brauche, ihre Erklärungen bleiben nebulös und unbestimmt, immer wieder sagen sie mir; daß alles nicht so einfach ist und daß es Situationen gibt, in denen. . .
Endlich beginne ich, die Welt selbst zu erobern, ohne ihre Hilfe. Ich lese Bücher und schaue mir Filme über Verbrecher und Milizionäre an, über Spione und Agenten, über die Rotgardisten und die Weißgardisten, und ich teile die Welt in zwei Farben ein. Die Zwischentöne beunruhigen mich, die Unbestimmtheit macht mir Angst, uneindeutige Entscheidungen erzeugen Entsetzen. Ich hasse alles Uneindeutige.
Mit elf Jahren werde ich von einem Auto angefahren und komme mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus. Zum ersten Mal werde ich vor dem Einschlafen nicht von meiner Mutter geküßt, zum ersten Mal bekomme ich morgens keinen Saft. Und ich hatte geglaubt, daß das, was war, immer bleiben würde. Ich fange an, die Ärzte mit der Frage zu löchern, wann ich nach Hause komme. Ich werde brav sein und alles aushalten, aber ich will genau wissen, wann es vorbei ist.
»Siehst du, Kind«, erklärt mir der bebrillte Arzt mit dem kleinen Bärtchen, »das hängt von verschiedenen Umständen ab. . .«
Dem folgt all das, was ich schon von meinen Eltern kenne. Ich beginne zu schreien, ich werde hysterisch, ich will nach Hause. Schließlich halten die Ärzte es nicht mehr aus mit mir und entlassen mich. Meine Mutter muß ihnen schwören, daß sie auf strenge Bettruhe achten und meinen Gesundheitszustand genau beobachten wird.
Ich bin glücklich, daß ich endlich wieder zu Hause bin, in meinem Zimmer, in meinem Bett, daß Mutter und Vater bei mir sind, daß ich meine Lieblingsbücher wieder um mich habe. Ich möchte bald wieder gesund werden, deshalb verspreche ich, alles zu tun, was der Arzt befohlen hat. Ich verspreche, im Zimmer mit den zugezogenen Vorhängen liegenzubleiben, so wenig wie möglich aufzustehen, nicht zu lesen, nicht fernzusehen, sechsmal am Tag meine Medizin einzunehmen. Aber ich bin erst elf
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