Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
sind. Ein geistesgestörter Mörder ist am schwersten zu fassen, das weißt du ja selbst.«
Natürlich wusste Nastja das. Am Anfang der Aufklärung eines Mordfalles stand von jeher die Frage: Qui prodest? Wem nutzt es? Finde das Motiv, und du findest den Mörder. Aber wenn man nicht herausfinden konnte, wem der Tod des Opfers nutzte, wurde alles sehr kompliziert. Es konnte sein, dass der Täter sein Opfer nicht einmal kannte, dass er es völlig willkürlich ausgewählt hatte, und dann musste man nach einem Psychopathen suchen, dessen Motive völlig im Dunkeln lagen.
Gegen Abend holte Nastja ihre Unterlagen über unaufgeklärte Verbrechen aus dem Safe und breitete sie vor sich auf dem Schreibtisch aus. Für den Anfang beschloss sie, sich auf die Fälle der letzten drei Jahre zu beschränken, danach konnte sie weiter zurückgehen, falls es nötig werden sollte.
Jeder unaufgeklärte Mordfall war in ihren Unterlagen einer bestimmten Gruppe zugeteilt. Die Zuordnung des Falles hing von verschiedenen Faktoren ab. Zum Beispiel davon, ob der Mörder von Zeugen gesehen worden war oder nicht, auf welche Weise die Tat begangen wurde, auch die Persönlichkeit des Opfers spielte eine Rolle, ebenso Tatort, Jahreszeit, Wochentag, Uhrzeit und so weiter. Es gab auch die Gruppe der Morde mit »unverhältnismäßiger Gewaltanwendung«. Das waren die Morde, bei denen das Opfer mit besonders vielen Schüssen oder Messerstichen getötet wurde.
Der Mord an dem Beamten der Generalstaatsanwaltschaft wurde an einem belebten Ort begangen, am Morgen eines Wochentags. Die Anzahl der Schüsse hätte genügt, um damit vier Menschen zu töten. Der Mörder war vierundzwanzig Jahre alt, mittelgroß, er hatte ein ungesund wirkendes, aufgeschwemmtes Gesicht. So weit, so gut, sagte sich Nastja. Was folgte nun daraus?
Sie fand in ihren Unterlagen zwei Fälle, in denen der Mörder als mittelgroßer junger Mann mit aufgeschwemmtem Gesicht beschrieben wurde. Der erste der beiden Morde wurde im Frühjahr 1993 begangen. Der Täter hatte die Schüsse ebenfalls aus nächster Nähe abgegeben, das Opfer war ein auf den ersten Blick völlig unauffälliger Mann, der sich jedoch als geschickter Erpresser erwies. Damals hatte sich die ganze Ermittlungsarbeit auf den Kreis der Personen konzentriert, die zu den Erpressten gehören konnten, aber der Mörder war unter ihnen nicht zu finden gewesen. Der Revolver, aus dem die Schüsse abgegeben wurden, wurde nach kurzer Zeit gefunden, aber es befanden sich keine Fingerabdrücke darauf. Der Mörder hatte ihn sorgfältig abgewischt.
Der zweite Mordfall hatte sich Ende 1994 ereignet, aber die Tat wurde in diesem Fall nicht mit einem Revolver begangen, sondern mit einem Messer. Nastja legte diesen Fall erst einmal beiseite und beschloss, sich den Mord an dem Erpresser näher anzuschauen. Natürlich stellte sich die Frage, wo der am heutigen Tag gefasste Mörder im Frühjahr 1993 gewesen war und was er zu dieser Zeit gemacht hatte. Vielleicht war er gar nicht in Moskau gewesen, dann erübrigten sich weitere Nachforschungen.
Das Läuten des Telefons ließ Nastja zusammenzucken.
»Wie sieht es aus, teure Freundin?«, hörte sie ihren Mann sagen. »Machst du noch nicht Feierabend?«
»Ist es denn schon so spät?«, fragte sie, ohne die Augen von den Blättern auf ihrem Schreibtisch zu heben.
»Jedenfalls später, als du denkst. Ich will ja nicht drängeln, aber es wäre ganz nett, wenn du bald nach Hause kommen würdest.«
»Wieso? Brauchst du mich?«, fragte Nastja begriffsstutzig.
»Nein, natürlich nicht«, lachte Alexej. »Wozu sollte ich dich brauchen? Mit dir hat man ja doch nur Ärger. Aber wir haben deinen Bruder für heute Abend eingeladen, er wird in einer halben Stunde hier sein.«
»O Gott, Ljoscha, verzeih!«, stöhnte sie auf. »Das habe ich völlig vergessen. Ich mache mich sofort auf den Weg. Aber warte. Warum hast du gesagt, dass Sascha in einer halben Stunde da sein wird? Kommt er etwa ohne Dascha?«
»Dascha ist längst hier. Und während du und dein Bruder durch Abwesenheit glänzt, begehen wir hier Ehebruch.«
»Gleich beide auf einmal?«
»Nein, nur ich. Ich betrüge dich, während Dascha ihrem Mann die Treue hält. Kommst du nun oder nicht?«
»Ich bin schon auf dem Weg, Ljoscha. Sag Sascha, dass er mich an der Metro abholen soll, ja?«
Sie packte ihre Unterlagen schnell ein und begann, sich anzuziehen. Es war ihr wirklich peinlich. Sie hatten ihren Halbbruder und seine Frau nach Ewigkeiten
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