Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen
wohl gut verdienen muss.«
»Und was hat er hier gemacht? Hat er sich mit jemandem getroffen? Oder den ganzen Tag geschlafen?«
»Er war immer unterwegs, ist früh aus dem Haus und erst abends wiedergekommen. Dabei wurde er von Tag zu Tag finsterer. Erst war alles in Ordnung, da war er fröhlich, aber dann wurde er immer mürrischer. Nach zwei Monaten hat er kaum noch mit mir geredet. Dann ist er verreist, eine Woche war er weg. Oder ein bisschen länger, vielleicht zehn Tage. Als er zurückkam, war er ganz still, irgendwie friedlich, und hat wieder mit mir gesprochen. Ein paar Tage war alles gut, dann ist er am Freitag früh wie immer aus dem Haus, und gegen vier kam er zurück, die Augen haben geglänzt, die Hände gezittert, er war wie ausgewechselt. Ich wollte mit dem Sechsuhrzug zur Tochter auf die Datscha fahren und hab zu ihm gesagt: Komm doch mit, da ist es so schön, da bist du an der frischen Luft, siehst deine Neffen mal wieder. Er wollte nicht. Frische Luft, hat er gesagt, hatte ich in der Taiga genug, das reicht für den Rest meines Lebens. Da bin ich eben allein gefahren. Ich habe ihn nicht mehr lebend wieder gesehen.«
»Sagen Sie, hat Viktor Ihnen je von jemandem erzählt, der beim Film ist?«
»Von wem denn?«, fragte die Frau erstaunt.
»Zum Beispiel von dem Regisseur Smulow.«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Nie gehört.«
»Und von Alina Wasnis?«
»Aber nein, nicht doch.«
»Aber Sie haben von ihr gehört?«
»Ja, natürlich, die habe ich im Fernsehen gesehen. Ein hübsches Mädchen.«
»Wissen Sie, dass sie zwanzig Jahre lang hier um die Ecke gewohnt hat?«
»Was Sie nicht sagen!« Woloschins Mutter klatschte in die Hände. »Nein, so was! Und ich hab das nicht gewusst. Aber warum fragen Sie das? Hat mein Viktor sie etwa gekannt?«
»Das weiß ich nicht.« Selujanow seufzte. »Vielleicht. Das ist es ja, ich möchte es herausfinden, aber niemand weiß es.«
Kein Wunder, dachte er, als er das Haus verließ, in dem Woloschin gelebt hatte und getötet wurde, wir kennen oft nicht einmal unsere unmittelbaren Nachbarn, geschweige denn die Leute aus der benachbarten Straße. Die viel zitierte Anonymität in der Großstadt mit den riesigen Hochhäusern, wo jeder mit seinen eigenen Problemen zu tun hat und keiner sich für den anderen interessiert.
Er beschloss, die Sache von der anderen Seite anzugehen, und fuhr dorthin, wo der renommierte Regisseur Andrej Smulow seine Kindheit verbracht hatte. Vielleicht fand er ja irgendwelche alten Freunde von ihm, die etwas Interessantes erzählen konnten. Später würde Selujanow sich nicht mehr erinnern, was ihn veranlasst hatte, in Smulows Kindheit zu graben. Ob es eine plötzliche Eingebung gewesen war, die Einflüsterung einer inneren Stimme oder einfach sein gut geschultes professionelles Gespür. Jedenfalls fuhr er hin. Das unterschied ihn von Nastja Kamenskaja. Bevor Nastja irgendwohin rannte, überlegte sie erst einmal lange und kalkulierte, welche Informationen sie einholen wollte, wie sie die bekommen und was sie anschließend damit anfangen konnte. Selujanow berechnete eine Situation selten im Voraus, er ließ sich von seiner Intuition leiten, handelte mitunter auch einfach auf gut Glück, vor allem, wenn er nicht wusste, was er als Nächstes tun sollte.
Selujanow begann wie üblich beim Milizrevier, denn wer lange bei der Kriminalpolizei arbeitet, hat auf jedem Revier Bekannte. Auch auf dem Revier im Bezirk Samoskworetschje, in dessen Zuständigkeit die Straße fiel, in der Andrej Smulow und seine Mutter gewohnt hatten, kannte Selujanow jemanden.
Endlich schien das Glück, das ihn so lange gemieden hatte, ihm die Sonnenseite zuzuwenden. Der Bekannte war an seinem Platz, erinnerte sich noch an Kolja und war guter Laune, jedenfalls legte er seine Arbeit sofort beiseite und widmete sich seinem Gast, holte sogar eine Flasche aus dem Safe. Der Bekannte hieß Giraffe, das heißt, laut Ausweis und Milizdokument hieß er Rafik Shigarewski, aber der lange dünne Hals, der nahtlos in den langen, mageren Rumpf überging, verführte dazu, seinen Namen auf diese Weise zu karikieren.
»Smulow?« Er verzog das Gesicht und leerte ein drittel Wasserglas Wodka in einem Zug. »Der Regisseur? Ein widerlicher Typ. Aber seine Alte, die ist klasse. Kann man glatt neidisch werden.«
Selujanow nahm einen großen Schluck, trank aber nicht alles aus. In seinem Inneren breitete sich angenehme Wärme aus, wie immer, wenn er nach langer, erfolgloser Suche
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