Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen
abends und nur zu Hause. Tagsüber versuche ich mich zu beherrschen. Wenn ich nämlich einmal anfange, dann kann ich nicht mehr arbeiten.«
Kamenskaja
Immer neue Details ergänzten das Bild, aber statt Klarheit entstand ein wirres Durcheinander. Nastja hatte die ganze Zeit das Gefühl, der Schleier würde jeden Moment reißen, und dann wäre alles klar und einleuchtend. Doch der Nebel wurde immer dichter und verhüllte die Antwort auf die so einfache Frage: Warum musste der Regisseur Andrej Smulow die Schauspielerin Alina Wasnis töten?
Aus alter Gewohnheit zeichnete Nastja Diagramme, die halfen ihr beim Nachdenken. Am neunten November dreiundneunzig wurde ein gewisser Michail Tatossow getötet, der eine schlecht bezahlte Stelle als Augenarzt in einer Poliklinik hatte. Am achten November, also einen Tag vor dem Mord an Tatossow, stieg Viktor Woloschin in ein Flugzeug und flog nach Krasnojarsk. Am vierundzwanzigsten November befragten die Milizionäre, die den Mordfall Tatossow bearbeiteten, seinen ehemaligen Klassenkameraden Andrej Smulow und fanden heraus, dass dieser am Mordtag erst bei Dreharbeiten war und anschließend bei seiner Geliebten Alina Wasnis.
Viktor Woloschin blieb fast zwei Jahre in Sibirien, dort erhielt er alle drei Monate aus Moskau Geld von Smulow, jedes Mal einen Betrag von umgerechnet fünfhundert Dollar. Am achtzehnten Juni fünfundneunzig kehrt Woloschin nach Moskau zurück, vom einunddreißigsten August bis zum neunten September hält er sich in Sotschi auf, wo gerade die Dreharbeiten zu »Wahn« laufen und wo ihn Alina sieht. Alina bekommt einen großen Schreck.
Am vierzehnten September erblickt Alina bei der Mustervorführung auf der Leinwand Woloschins Gesicht, und das bewirkt einen heftigen Stimmungsumschwung. Seltsam. Schließlich wusste sie vorher, dass sie ihn sehen würde, doch Augenzeugen bestätigen, dass sie bester Laune war. Also hatte sie nicht erwartet, dass er mit im Bild war? War er aber. Na und? Warum war sie so nervös und gereizt?
Am fünfzehnten September unternimmt Smulow gewaltige Anstrengungen, um bei den Sirius-Mitarbeitern eine negative Meinung über Alina Wasnis zu erzeugen. Am späten Abend (nehmen wir das dem Experiment zuliebe zunächst einmal an) tötet er Alina. Am achtzehnten tötet jemand (derselbe oder jemand anders?) Viktor Woloschin.
Verzwickt. Nichts passte zusammen. Smulow durften sie vorerst nicht anrühren, es gab keinen Grund, ihn festzunehmen, und wenn sie nur mit ihm redeten, würde er sich herauswinden und sich noch etwas Neues einfallen lassen. Ein Meister seines Fachs, verdammt!
Nastja saß zu Hause in der Küche auf ihrem kleinen Sofa vorm Fenster, die Beine angezogen, vor sich auf dem Tisch Blätter mit Diagrammen, die nur sie verstand. Im Zimmer sah Ljoscha bei gedämpftem Ton fern. Es war schon sehr spät, aber er ging noch nicht schlafen, sondern wartete auf sie.
»Ljoscha!«, rief sie. »Komm, lass uns was essen.«
Ljoscha erschien in der Küche, hünenhaft, schlaksig, mit einem unbändigen roten Haarschopf, der ihn irgendwie unernst aussehen ließ, gar nicht wie einen Doktor und Professor, der er eigentlich war.
»Hast du Hunger?«
»Nein, aber Stillstand im Gehirn. Ich muss mich ablenken. Ist vom Abendessen noch was übrig?«
»Kartoffeln und Huhn. Willst du?«
»Ja.«
Sie sammelte rasch ihre Blätter ein, schnitt Brot und deckte den Tisch, während Ljoscha das übrig gebliebene Hähnchenragout aufwärmte. Sie hatte eigentlich keinen Hunger, aber ein warmes Essen war oft eine hilfreiche Ablenkung.
»Ljoscha, was meinst du, wovor haben normale Menschen am meisten Angst?«
»Vor dem Tod«, antwortete er prompt. »Das steht an erster Stelle.«
»Und an zweiter?«
»Gespenster.«
»Ach, hör auf! Nein, im Ernst.«
»Das meine ich ernst. Wenn du zum Beispiel allein in der Wohnung bist und plötzlich ein unerklärliches Geräusch hörst, und zwar ganz in der Nähe, kriegst du dann keinen Schreck?«
»Doch, natürlich.«
»Na eben. Und nun überleg mal: Du weißt doch, dass du allein in der Wohnung bist, dass außer dir niemand da ist. Wovor hast du also Angst?«
»Na ja, eigentlich . . .« Sie drehte die Ketchupflasche in der Hand, unschlüssig, ob sie welchen auf das Ragout geben sollte oder nicht. »Genau genommen fürchtet der Mensch alles Unerklärliche, alles, was außerhalb seines Begriffsvermögens liegt. Unter anderem Gespenster.«
Alina kennt Woloschin seit vielen Jahren und hat Angst vor ihm. Dann verlässt
Weitere Kostenlose Bücher