Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen
hatte.
Zu Mischas Geburtstag ging die ganze Klasse. Einmal wollte auch Andrej seinen Geburtstag mit seinen Klassenkameraden feiern, lud alle ein und bat seine Mutter, genug zu essen zu machen. Hinterher wälzte er sich lange schlaflos im Bett, die Fäuste geballt und gegen die Tränen ankämpfend. Nur zwei Mädchen waren gekommen, die eine war zu dem Zeitpunkt heimlich in ihn verliebt, die andere noch neu in der Klasse.
Die ganzen Jahre quälte Andrej eine einzige Frage: Warum? Warum wurde der hässliche, unscheinbare Dreienschreiber von allen vergöttert, er dagegen, gut aussehend und zweifellos begabt, gemieden? Warum? Andrej beneidete Mischa und hasste ihn dafür. Weil er, eine schillernde, außergewöhnliche Persönlichkeit, dieses primitive Wesen beneidete.
In der neunten Klasse brach Andrej sich einen Arm und musste, solange er den Gips trug, zu Hause bleiben. Nur ein einziger Mensch kam ihn besuchen: Mischa Tatossow. Andrej war von widersprüchlichen Gefühlen zerrissen: Hass auf Mischa und Dankbarkeit, weil er ihn besuchte. Einmal kam Mischa am Abend, als Andrejs Mutter zu Hause war. Sie ging »anstandshalber« zu den Jungen hinein, brachte ihnen Tee und Piroggen, wechselte mit dem Gast ein paar nichts sagende Sätze und . . . blieb bei ihnen sitzen. Geschlagene zwei Stunden saß sie in Andrejs Zimmer und plauderte fröhlich mit Mischa, lachte herzlich über seine Scherze, erzählte und sah dabei die ganze Zeit nicht ihren Sohn an, sondern Mischa.
Als der Gast auf brach, begleitete sie ihn zur Tür und ging zurück zu Andrej.
»Was für ein netter Junge«, sagte sie. »Warum kommt er so selten zu uns? Sag ihm doch, er soll öfter kommen.«
Andrej wurde ganz übel.
»Mit mir sitzt du nie zwei Stunden lang zusammen«, sagte er vorwurfsvoll. »Und mir erzählst du nie etwas. Wieso ist er besser als ich?«
»Er strahlt Wärme aus. Menschliche Wärme und Güte. Mit ihm fühlt man sich wohl.«
»Und mit mir nicht?«
»Junge, du hörst doch niemandem zu. Du interessierst dich doch für niemanden, nur für dich selbst.«
Von da an wurde der Hass hundertmal heftiger. Andrej meinte, Mischa Tatossow habe ihm die Liebe seiner Mutter gestohlen. Der Vater hatte sie vor langer Zeit verlassen, die Mutter war eine schöne junge Frau und hatte natürlich Männer. Manche kamen auch zu ihnen ins Haus, aber auf sie war Andrej nie eifersüchtig. Eine erwachsene Frau brauchte einen erwachsenen Mann, daran gab es keinen Zweifel. Aber das Lob für Mischa – das war etwas ganz anderes. Für die Mutter hatte nur ein einziger Junge auf der Welt zu existieren – er, Andrej. Und auf keinen Fall Mischa Tatossow.
Sie beendeten die Schule und begannen zu studieren. Andrej an der Filmhochschule, Mischa am Medizinischen Institut. Sie wohnten noch immer im selben Bezirk und trafen sich häufig auf der Straße oder beim Einkaufen. Mit sechsundzwanzig heiratete Smulow ein Mädchen, in das er wahnsinnig verliebt war, und bei einer dieser zufälligen Begegnungen lernte sie Tatossow kennen. Mischa, genauso alt wie er, bekam bereits eine Glatze und wirkte, klein und das Gesicht voller Fältchen, wie ein alter Mann. Doch seine Augen funkelten noch immer fröhlich, und seine Stimme war samtig und einnehmend.
Anderthalb Jahre nach der Hochzeit erklärte Andrejs Frau, sie verlasse ihn wegen Tatossow.
»Aber warum?«, schrie Smulow, der mit Mühe die Tränen der Wut unterdrückte. »Was ist so schlecht an mir? Was ist an Mischa besser?«
»Alles«, antwortete Galina müde. »Du bist ein kalter Egoist, du willst von den Menschen nur eins: dass sie dich bewundern, deine Schönheit und dein Talent. Nur dazu brauchst du die anderen. Du benutzt die Menschen nur, um dich in ihnen zu spiegeln und um deine Überlegenheit zu genießen. Sie sollen an deinen Lippen hängen und sich von dir rumkommandieren lassen. Du willst geliebt werden und bewundert, aber du selbst willst nichts dafür geben.«
»Und was gibt er?«
»Alles. Er gibt sich selbst. Er kann zuhören, Mitgefühl empfinden, trösten und helfen, selbst wenn er jemanden überhaupt nicht kennt. Er hat Wärme, Herzenswärme, verstehst du? Mit ihm ist es schön und leicht. Mit dir dagegen ist es kalt und schlecht. An deiner Seite war mir kalt. Kannst du das begreifen?«
Er konnte es nicht. Er wollte so gern von Menschen umgeben sein, die ihn liebten, die an ihm hingen. Er wollte im Mittelpunkt stehen. Doch um ihn herum herrschte Leere.
Galina ging zu Tatossow, und nach ein paar Monaten
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