Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
sie auch ohne Auto auskommen, und morgen hatte sie Abenddienst. Sie würde mit der Metro zur Klinik fahren und das Auto auf dem Rückweg mitnehmen. Bis dahin würde sie sich wieder gefangen haben. Sie hatte die halbe Nacht nicht geschlafen, die Anrufe hatten sie entnervt, und als Ärztin wusste sie, dass man sich in so einem Zustand nicht ans Steuer setzen durfte. Gleich hier befand sich ein bewachter Parkplatz, ihr Auto würde über Nacht in Sicherheit sein.
Larissa stellte den Wagen ab und ging zur Metro. Die Fahrt lenkte sie ab. Sie war schon so lange nicht mehr Metro gefahren, dass sie gar nicht wusste, wie viele interessante kleine Geschäfte sich inzwischen in den Unterführungen etabliert hatten. Man konnte hier gute Kosmetik kaufen, Kuchen und Süßigkeiten, Souvenirs, technisches Gerät, Bücher und Zeitschriften, es wurden sogar Filme zum Entwickeln angenommen. Larissa erstand die Zeitschrift »Lisa« und fuhr mit der Rolltreppe hinunter zu den Bahnsteigen. Ihre Nervosität hatte etwas nachgelassen, aber als erfahrene Psychiaterin war ihr klar, dass sie nicht sehr gut in Form war. Sie stellte sich nicht an den Bahnsteigrand, so, wie sie es früher immer getan hatte, sondern ging nach hinten und lehnte sich gegen die Mauer. Sie fühlte eine unbestimmte Angst, dass irgendein Betrunkener oder Verrückter sie auf die Gleise stoßen könnte, unter die einfahrende Bahn. Sie wusste, dass grundlose Ängste dieser Art das erste Anzeichen für ein angegriffenes Nervenkostüm waren.
* * *
Zu Hause angekommen, hörte Larissa als Erstes den Anrufbeantworter ab. Zu ihrer Überraschung vernahm sie eine angenehme Männerstimme.
Guten Tag, Larissa. Hier spricht Viktor Derbyschew. Ich habe Ihren Brief mit dem Foto bekommen und würde Sie sehr gern treffen. Leider sind Sie im Moment nicht zu Hause. Ich werde heute von acht bis halb neun Uhr abends an der Metrostation Akademicheskaja auf Sie warten. Wenn Sie heute nicht kommen können und ich Sie bis zum Abend nicht mehr erreiche, warte ich morgen um dieselbe Zeit am selben Ort auf Sie. Auf Wiedersehen.
Großartig! Larissas Stimmung besserte sich sofort, sie vergaß sogar die mysteriösen Anrufe, die sie so aufgeregt hatten. Jetzt war es erst halb vier, noch viel Zeit bis zum Treffen mit Derbyschew, und Larissa wollte alles dafür tun, um am Abend so gut wie möglich auszusehen.
Sie ging ins Bad und betrachtete sich kritisch im Spiegel. Die unruhige Nacht war nicht spurlos an ihr vorübergegangen, ihr Gesicht sah müde aus, Fältchen unter den Augen, matte Haut. Sie musste wenigstens noch zwei Stunden schlafen und sich danach eine Gesichtsmaske auflegen.
Sie nahm eine warme Dusche, legte sich ins Bett und versuchte, sich zu entspannen. Es gelang ihr nicht einzuschlafen, der Schrecken, den der mysteriöse Anrufer ihr eingejagt hatte, saß ihr immer noch in den Gliedern, aber nach zwei Stunden hatte sie sich dennoch einigermaßen erholt, und als sie wieder aufgestanden war, gefiel ihr das eigene Spiegelbild schon sehr viel besser. Die Augen waren wieder klar, der Teint sah frisch aus. Und als Larissa Tomtschak weitere zwei Stunden später das Haus verließ, sah sie mindestens acht Jahre jünger aus als sie war. Ihre Augen leuchteten, ein Lächeln umspielte ihre Lippen, die Füße in den eleganten Stiefeletten schienen geradezu über dem Trottoir zu schweben. Jetzt bedauerte sie, dass sie ihren Wagen hatte stehen lassen und nun erneut mit der Metro fahren musste, aber sie tröstete sich schnell mit dem Gedanken, dass Derbyschew sicher in seinem Mercedes erscheinen würde, sodass es mit dem Nachhausekommen zu später Stunde wohl keine Probleme geben würde.
Obwohl es bereits Viertel nach acht war, konnte sie Derbyschew am vereinbarten Ort nicht erblicken. Sie entfernte sich ein wenig, blieb stehen und überlegte, ob sie bis halb neun warten oder sich stolz umdrehen und wieder gehen sollte. Stolz tut hier nichts zur Sache, sagte sie sich schließlich, sie wollte ja nicht seine Liebhaberin werden oder gar seine Ehefrau. Sie wollte ihn nur kennen lernen, um zu erfahren, wer Natascha Zukanowas Vater war, und dafür lohnte es sich zu warten, sogar viel länger als bis halb neun. Denn wenn sich heraussteilen sollte, dass es Strelnikow war, der vor langer Zeit das hilflose, alkoholisierte Mädchen vergewaltigt hatte, würden ihr Mann und sie selbst ein für alle Mal von dieser Männerfreundschaft erlöst sein, die Larissa schon so viele Jahre im Wege stand und sie nicht frei
Weitere Kostenlose Bücher