Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
atmen ließ.
»Larissa?«, hörte sie jemanden neben sich sagen.
Noch bevor sie sich umdrehte, wurde ihr bewusst, dass die Stimme ganz anders klang als die, die sie auf dem Anrufbeantworter gehört hatte. Sollte es jemand von ihren Bekannten sein? Das war Pech. In diesem Fall würde Slawa zweifellos von ihrer nächtlichen Unternehmung erfahren.
Sie wandte sich vorsichtig um und erblickte einen jungen Mann, der etwas seltsam, aber insgesamt sehr sympathisch wirkte. Larissa war auf den ersten Blick klar, dass er zu einer sexuellen Minderheit gehörte, auch solche wie ihn brachte man zu ihr in die Sprechstunde. Trotz der zahlreichen einschlägigen Veröffentlichungen und der umfassenden Aufklärungsarbeit der letzten Jahre war die Masse immer noch überzeugt davon, dass es sich bei Homosexualität um eine psychische Krankheit handelte. Der junge Mann, der neben ihr stand, war groß und breitschultrig, er trug eine Hose aus teurem dünnen Leder, die seine muskulösen Beine eng umschloss. Seine Haare waren am Hinterkopf zusammengebunden, die Augenbrauen zu hohen, feinen Monden gezupft, das Gesicht von einer dicken Make-up-Schicht bedeckt, was allerdings nicht sofort ins Auge fiel, erst recht im Dunkeln, da es sich ganz offensichtlich um ein teures Make-up handelte, das der männlichen Haut, die auch nach einer guten Rasur immer etwas grob blieb, eine dezente Glätte verlieh. Mit geübtem Blick erkannte Larissa die Spur Lippenstift auf seinem Mund. Nein, dieser Mann war kein Transvestit, er wollte nicht aussehen wie eine Frau, sondern nur seinen männlichen Partnern gefallen. Was wollte er von ihr? Handelte es sich um einen ehemaligen Patienten? Aber dazu passte die familiäre Anrede nicht. Für ihre Patienten war sie immer nur Larissa Michajlowna.
»Larissa?«, wiederholte der originelle junge Mann noch einmal und sah ihr ins Gesicht.
»Ja bitte?«, fragte sie neutral.
»Verzeihen Sie, warten Sie auf Viktor Derbyschew?« »Ja.«
»Gott sei Dank, ich habe es noch geschafft«, lächelte der junge Mann. »Ich habe schon befürchtet, Sie würden nicht bis halb neun warten und wieder gehen. Viktor schickt mich. Er hat eine Besprechung, die sich in die Länge zieht, und er kann sie leider nicht vorzeitig verlassen. Deshalb hat er mich geschickt, damit ich Sie zu ihm nach Hause bringe, er selbst wird so bald wie möglich nachkommen. Er hat mir sogar Ihr Foto gegeben, damit ich Sie erkenne.«
Larissa nickte. Immerhin erwies sich Derbyschew als verlässlicher Mensch, das war schon einmal gut. Seltsam war nur, dass er sie zu sich nach Hause einlud. Er wohnte an der Metrostation Oktjabrskoje Polje, nicht an der Akademicheskaja, an der Larissa sich in diesem Moment befand. Wenn er von Anfang an vorhatte, sie in seine Wohnung zu bitten, warum hatte er sich dann hier mit ihr verabredet? Aber danach durfte Larissa nicht fragen, sonst hätte sie sich verraten. Es musste so aussehen, als kenne sie seine Adresse nicht, als hätte sie lediglich seine Postfachnummer von der Agentur bekommen.
»Gut, gehen wir. Oder fahren wir?«
»Nein, wir gehen. Es ist ganz in der Nähe. Mein Name ist übrigens Alik.«
»Sehr angenehm. Meinen Namen kennen Sie ja schon.«
Larissa wusste nicht so recht, worüber sie mit diesem Alik sprechen sollte, sie hatte kein Interesse daran, ihn näher kennen zu lernen. Andererseits hatte er Viktor einen Gefallen getan, er war an seiner Stelle zum Treffpunkt gekommen, deshalb war eisiges Schweigen ebenfalls irgendwie unangebracht.
»Arbeiten Sie mit Viktor zusammen?«, fragte sie höflich.
»Nein, wir sind einfach nur Freunde.«
Der junge Mann fing Larissas raschen Seitenblick auf und lachte leise. Sein Lachen war genauso hell wie seine Sprechstimme.
»Ich weiß, was Sie denken. Aber wir sind wirklich nur Freunde, ohne alle Zweideutigkeiten. Haben Sie doch keine Angst, Larissa, seit dieser Paragraph nicht mehr existiert, verbergen wir uns nicht mehr. Ja, ich bin so einer, und ich bin damit glücklich. Man kann sogar sagen, dass ich stolz darauf bin. In meinem Leben gibt es viele Freunde und viel Liebe, und das kann nicht jeder normal orientierte Mann von sich behaupten. Nehmen Sie zum Beispiel Viktor. Sie kennen ihn noch nicht, aber glauben Sie mir, ich kenne keinen anderen Mann, der so viel Pech in der Liebe hat wie er. Es ist, als würde ein Fluch über ihm hängen. Er sieht gut aus, hat Geld und ist gesund, aber er muss die Dienste einer Heiratsagentur in Anspruch nehmen. Es ist paradox.«
Alik blieb
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