Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
körperlich spürbar. Die Tür öffnete ihr ein Mann, der früher wahrscheinlich einmal blond gewesen war, aber inzwischen war er fast gänzlich ergraut. Er schien sich seit mindestens zwei Tagen nicht rasiert zu haben, er wirkte düster und verschlossen.
»Sie wünschen?«
»Sind Sie Wjatscheslaw Petrowitsch Tomtschak?«
»Ja. Und wer sind Sie?«
»Mein Name ist Tatjana, ich . . .« Sie machte eine einstudierte Verlegenheitspause. »Wissen Sie, ich schreibe Bücher . . . Kurz, ich habe aus der Zeitung erfahren, dass man eines meiner Bücher bei einem ermordeten Mädchen gefunden hat . . .«
»Und nun sind Sie neugierig?«, unterbrach Tomtschak sie scharf.
An seinem Tonfall konnte man hören, dass er so eine Art Neugier keinesfalls billigte.
»Nein, man kann das nicht Neugier nennen. Es geht um etwas anderes. Dürfte ich vielleicht eintreten?«
Tomtschak trat wortlos zur Seite und ließ Tatjana ins Haus. Sie ging durch zur Veranda und warf ihre Handtasche auf einen Stuhl.
»Wjatscheslaw Petrowitsch, wenn es sich einfach nur um unverschämte Sensationslust handeln würde, hätte ich nicht Sie aufgesucht, sondern Strelnikow. Aber ich respektiere seinen Schmerz und möchte ihn in einem so schweren Moment nicht belästigen. Verstehen Sie mich bitte, als Autorin des Buches ist mir die Geschichte des Mädchens nicht gleichgültig. Vielleicht hat sie noch wenige Minuten bis vor ihrem tragischen Tod in meinem Buch gelesen. Aber mein Interesse kommt Ihnen wahrscheinlich abwegig vor . . .«
»Nehmen Sie Platz«, sagte der Hausherr, und Tatjana schien, dass er ein wenig zugänglicher geworden war. »Ich verstehe, was Sie sagen wollen, aber ich verstehe nicht, warum Sie zu mir gekommen sind. Sie sollten lieber mit Milas Freundinnen sprechen. Ich habe die Ermordete nicht gut gekannt, eigentlich fast gar nicht.«
»Das ist nicht so einfach, wie es Ihnen scheint«, bemerkte Tatjana mit einem Lächeln. »Ich bin ja keine Kriminalbeamtin, für mich ist es sehr schwer, an Informationen heranzukommen.«
Tatjana holte die Zeitung aus ihrer Handtasche und schlug sie an entsprechender Stelle auf.
»In dieser Meldung hier heißt es, dass die ermordete Ljudmila Schirokowa die Braut von Herrn Strelnikow war, der noch bis vor kurzer Zeit als Präsident des Fonds zur Förderung humanistischer Bildung fungierte. Bei diesem Fonds hat man mich an Sie und Genadij Fjodorowitsch Leontjew als die engsten Freunde und Mitarbeiter von Herrn Strelnikow verwiesen. In der Zeitungsmeldung steht leider nicht, wo das Mädchen gearbeitet hat. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen.«
»Und warum sind Sie nicht zu Leontjew gegangen?«
»Ich weiß es nicht.« Tatjana lächelte entwaffnend. »Vielleicht deshalb, weil Sie zurzeit auf Ihrer Datscha wohnen und vielleicht etwas mehr Zeit haben, sich mit mir zu unterhalten. Und wäre ich zu Leontjew gegangen, hätte er mich gefragt, warum ich nicht Sie aufgesucht habe. Es lief also beides auf das Gleiche hinaus.«
In Wahrheit war ihre Wahl ganz bewusst auf Tomtschak gefallen. Sie hoffte, dass er, der Gekränkte und Enttäuschte, über Strelnikow mehr erzählen würde als Leontjew, der nach seinem Ausscheiden aus dem Fonds an vier oder fünf Privathochschulen gleichzeitig lehrte. Er hatte alle Hände voll zu tun, war ständig unterwegs von einem Ende der Stadt zum andern und hätte wahrscheinlich wenig Lust gehabt, mit einer ihm unbekannten Schriftstellerin sinnlose Unterhaltungen zu führen.
»Nun gut. Was wollten Sie mich fragen?«
»Erzählen Sie mir etwas über die Ermordete. Was für ein Mensch war sie? Mich interessieren ihre Gewohnheiten, ihr Charakter. Aber wenn Sie sie fast gar nicht gekannt haben . . .«
»Auf diese Fragen kann ich Ihnen tatsächlich nicht antworten. Wahrscheinlich haben Sie den weiten Weg hierher umsonst gemacht.«
»Wissen Sie vielleicht, wo sie gearbeitet hat?«
»Nein, das weiß ich leider auch nicht.«
Natürlich weiß er es, dachte Tatjana. Sie alle wissen genau, dass Mila und Ljuba Freundinnen waren und zusammengearbeitet haben. Warum lügt der Mann?
»Wissen Sie, wo sie gewohnt hat?«
»Nein, auch das weiß ich nicht.«
»Wie ist das möglich, Wjatscheslaw Petrowitsch?«, fragte Tatjana erstaunt. »Man hat mir gesagt, dass Sie und Leontjew Strelnikows engste Freunde sind. Und als solche wissen Sie überhaupt nichts von seiner Braut?«
»Ja, stellen Sie sich das vor. Nur Frauen erzählen sich immer alles bis in kleinste Details.«
»Und unter Männern ist das
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