Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
in der Tat keine zwei unterschiedlicheren Menschen vorstellen. Gurgen Artaschesowitsch war äußerst redselig, immer zu Scherzen und Späßen aufgelegt, sogar während einer Leichenbeschau. Noch nie hatte ihn jemand schlecht gelaunt, bedrückt oder schweigsam erlebt. Was auch in seinem Leben geschah, er blieb immer obenauf, lachte und scherzte in seiner überaus blumigen, mit Koseworten gespickten Sprache. Oleg Subow war das diametrale Gegenteil des dicken alten Armeniers, immer griesgrämig und schlecht aufgelegt. Aber während Ajrumjan fröhlich auf Olegs verdrossene Miene reagierte und sie zum Anlass für neue Scherze nahm, brachten Subow die Späße des Gerichtsmediziners auf die Palme. Er wurde sofort wütend, was Gurgen Artaschesowitsch nur zu noch größerer Fröhlichkeit veranlasste. Zum Glück trafen die beiden Sachverständigen wenigstens nicht jeden Tag zusammen.
Nastja verließ das Bad und ging rasch auf Olschanskij zu. Dieser saß auf dem Rand eines Sofas und blätterte langsam in einem Buch mit grellrotem Einband.
»Guten Abend, Konstantin Michailowitsch.«
»Ach, du bist es«, sagte der Untersuchungsführer zerstreut. »Hat man dich auch hergeschickt?«
»Ich bin selbst schuld. Ich war bei Amor und habe mit der Inhaberin gesprochen. Dann habe ich Gordejew angerufen, um Bericht zu erstatten. Und er hat mir die Neuigkeit mitgeteilt. Wie ist das passiert?«
»Die Mutter ist von der Arbeit nach Hause gekommen und hat ihre Tochter gefunden. Nach etwa einer halben Stunde erschien der Vater. Seine Frau liegt bewusstlos auf dem Fußboden, und die Tochter hängt in der Schlinge. Muss ein lustiger Anblick für ihn gewesen sein. Ljubas Mutter hat man bereits ins Krankenhaus gebracht, es sieht offenbar nicht sehr gut aus. Der Vater ist einigermaßen gefasst. Euer Lesnikow unterhält sich gerade in der Küche mit ihm. Die Leiche befindet sich im anderen Zimmer, dort ist Subow am Werk. Ich habe ihm entsprechende Anweisungen gegeben und beschlossen, ihm nicht hineinzureden.«
»Sie werden doch Ihren Prinzipien nicht untreu werden?«, scherzte Nastja.
»Niemals. Ich bin heute nur müde, die Beine tun mir weh, ich kann nicht mehr stehen.«
»Aha«, bemerkte Nastja mitfühlend.
Jeder wusste, dass Untersuchungsführer Olschanskij in der Kriminalistik nicht schlechter Bescheid wusste als jeder Kripobeamte. Das hätte ihm Achtung einbringen können, aber leider hatte Konstantin Michailowitsch eine sehr unangenehme Angewohnheit. Er bezweifelte die Professionalität seiner Kollegen, gab ihnen stets detaillierte Anweisungen, bevormundete und kontrollierte sie. Das machte die Beamten wütend und brachte sie gegen ihn auf. Keiner von ihnen hätte sagen können, dass Olschanskij sich in der Materie nicht auskannte, dass er Unsinn redete, nein, alles, was er sagte, war nicht nur richtig, sondern entsprach dem neuesten Stand kriminalistischer Theorie und Praxis. Aber alles das wussten die Kripobeamten selbst. Es gab unter ihnen natürlich auch Pfuscher und Taugenichtse ohne entsprechende Ausbildung, das bestritt niemand, aber schließlich waren nicht alle so. Doch nachdem Olschanskij einst zufällig entdeckt hatte, dass hinter einigen unaufgeklärt gebliebenen Fällen purer Dilettantismus steckte, beschloss er, diesen Teil der Ermittlungen nicht mehr aus den Händen zu geben, und kontrollierte seitdem die Arbeit sämtlicher Kripobeamten, ohne Rücksicht auf die Person. Er kommandierte erfahrene, qualifizierte Beamte, die ihr erstes Gutachten bereits zu einer Zeit erstellt hatten, als Olschanskij noch die Schulbank drückte und Kontrollarbeiten in Mathe schrieb, herum wie kleine Jungs, die zum ersten Mal einen Spurensicherungskoffer in der Hand hatten. Deshalb hatte Nastja Kamenskaja allen Grund, sich darüber zu wundern, dass der Untersuchungsführer den Gutachter im Nebenzimmer allein gelassen hatte, friedlich auf dem Sofa saß und in einem Buch blätterte.
»Übrigens, die Verstorbene hat religiöse Bücher gelesen«, bemerkte Olschanskij und zeigte Nastja das rote Bändchen mit dem darauf abgebildeten Kreuz und der Aufschrift »Neues Testament«. »Das ist jetzt in Mode bei der Jugend. Seltsam, dass sie sich aufgehängt hat. Das hätte sie nicht tun dürfen, wenn sie religiös war. Das Christentum lehnt Selbstmord ab.«
»Sie hat sich vielleicht nicht wirklich damit beschäftigt, sondern nur da und dort etwas aufgeschnappt. Und überhaupt, Konstantin Michailowitsch, dieses Bändchen besagt noch gar nichts. Ich habe
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