Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
oder von einem Mantel, wenn die Schirokowa das grüne Seidenkostüm nicht nur bei schönem Wetter trug, sondern auch unter dem Mantel. Aber das Kostüm konnte auch im Schrank gehangen oder in einem Koffer gelegen und Gewebefasern anderer Kleidungsstücke angenommen haben. Ebenso konnten diese Fasern vom Kleidungsstück eines Fahrgastes in einem überfüllten öffentlichen Verkehrsmittel stammen. Oder von einem Stoff, in den der unbekannte schwere Gegenstand eingewickelt war, falls die Schirokowa einen solchen auf ihren Armen getragen hatte. Subow schwor Stein und Bein, dass das Gewicht dieses Gegenstandes nicht weniger als achtundvierzig bis fünfzig Kilo betragen haben musste, er hatte es ein Dutzend Mal nachgerechnet.
»Nastja«, hörte sie ihren Mann rufen, der inzwischen nicht nur gefrühstückt hatte, sondern bereits fertig angezogen zur Tür hereinsah. »Was ist mit dir, bist du eingeschlafen?«
Sie fuhr zusammen und schüttelte den Kopf.
»Ist es schon so weit?«
»Ich jedenfalls muss los. Wenn du dich schnell fertig machst, nehme ich dich mit bis zum Zentrum. Ich darf heute nicht zu spät kommen, ich habe um zehn eine Besprechung.«
»Gleich, mein Schatz.«
Sie drückte die Zigarette aus und schlüpfte in Jeans und Pullover. Das Zuschnüren der Turnschuhe wurde zu einer schier unlösbaren Aufgabe, das Bücken bereitete ihr selbst in sitzender Haltung Schmerzen, aber Ljoscha war an so etwas längst gewöhnt, deshalb kniete er sich ohne große Worte hin und half ihr.
Im Auto saßen sie schweigend nebeneinander. Zuerst dachte Nastja, Ljoscha sei ihr aus irgendeinem Grund böse, aber dann wurde ihr klar, dass er an seine Besprechung dachte. Auch sie kehrte in Gedanken zurück zu dem seltsamen Mord an Ljudmila Schirokowa und der unverständlichen Rolle, die der liebeshungrige Viktor Derbyschew in diesem Fall spielte. Mila musste ihm einen Brief geschrieben haben und hatte sogar eine Antwort bekommen, aber er schwor, dass er nie einen Brief von ihr erhalten hatte, dass der Antwortbrief nicht von ihm stammte und dass er die schöne Blondine nie gesehen hatte. Die Gutachter versprachen kein baldiges Ergebnis der Schriftprobe, aber das dem Brief beigelegte Foto zeigte ja nicht etwa Derbyschews Zwilling, sondern eindeutig ihn selbst. Auf der Petrowka hatte Viktor zu Protokoll gegeben, dass er sich auf dem Foto erkannte, ebenso seine Kleidung, die er anschließend dem Untersuchungsführer und den Kripobeamten zeigte, die ihn zu seiner Wohnung begleiteten. Nichts als Rätsel. Nastja wusste in etwa, wie sie diese Spur weiterverfolgen musste, aber die Frage bestand darin, ob es nötig war. Wenn die Sergijenko die Täterin war, dann hatte die Geschichte mit den Briefen keinerlei Bedeutung für den Fall. Oder etwa doch?
»Ljoscha«, sagte sie schüchtern. Sie wusste, dass sie ihren Mann aus seinen Gedanken an die bevorstehende Besprechung riss. »Bewahrst du Briefe auf, oder wirfst du sie weg?«
»Welche Briefe?«, fragte Tschistjakow erstaunt.
»Welche auch immer. Diejenigen, die du bekommst.«
»Im Zeitalter des Telefon ist das Briefeschreiben eine Seltenheit geworden, kaum noch jemand nimmt sich dafür die Zeit. Meine gesamte Arbeitskorrespondenz läuft über das Institut, und diese Briefe bewahre ich natürlich auf. Alle Adressen, Daten und Namen. Aber persönliche Briefe bekomme ich schon lange nicht mehr. Warum fragst du?«
»Nur so«, seufzte Nastja. »Ich werde weiter darüber nachdenken.«
Auf dem Komsomolskij-Platz stieg Nastja aus, ging hinunter zur Metro und fuhr zur Arbeit.
* * *
Es erwies sich als ziemlich einfach, Nadeschda Zukanowas Adresse herauszufinden. Es hatte natürlich die Möglichkeit bestanden, dass die Zukanowa in siebenundzwanzig Jahren geheiratet hatte und inzwischen anders hieß, aber zum Glück war das ganz offensichtlich nicht der Fall. Jedenfalls gab man Larissa im Adressbüro sieben Anschriften, unter denen Frauen im passenden Alter lebten und Nadeschda Romanowna Zukanowa hießen.
Die ersten vier Versuche waren erfolglos. Larissa fuhr die genannten Adressen ab und gab vor, eine ehemalige Kommilitonin zu suchen. Es kam vor, dass niemand zu Hause war und Larissa noch einmal oder sogar öfter zu der genannten Adresse fahren musste. Es kam auch vor, dass die Tür geöffnet wurde, aber Nadeschda Romanowna gerade nicht zu Hause war, woraufhin Larissa bat, ihr ein Foto der Gesuchten zu zeigen. Natürlich reagierten die Angesprochenen mit Misstrauen, Larissa musste erklären, bitten
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