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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Fraa Lio, der ständig neue Wicklungen erfand, bestand Arsibalt darauf, dass es richtig gemacht wurde.
    Als wir alle angezogen waren, verwandten wir noch ein paar Minuten darauf, unsere Korde in weitere Schlingen zu legen und die Falten, die die Kapuzen auf unseren Köpfen bildeten, zu formen – so ziemlich der einzige Teil dieser Wicklung, bei dem es möglich war, einen individuellen Stil zu zeigen.
    Fertige Sandalen türmten sich auf dem Boden neben dem Ausgang des Dormitoriums. Auf der Suche nach einem Paar, das mir passte, durchwühlte ich den Haufen mit dem Fuß. Die Regel war von Leuten geschaffen worden, die an warmen Orten lebten. Sie erlaubte jedem Avot den Besitz einer Kulle, einer Kord und einer Sphär, sagte aber nichts über das Schuhwerk. Im Sommer machten wir uns darüber wenig Gedanken. Doch jetzt wurde das Wetter allmählich kalt. Und während der Apert würden wir vielleicht extramuros gehen und auf Stadtstraßen mit Glasscherben und anderen Gefahren konfrontiert werden. Wir dehnten die Regel ein bisschen, indem wir während der Apert Reifensandalen und in den Wintermonaten Mukluks mit weichen Sohlen trugen. Die Avot von Saunt Edhar hielten es mittlerweile schon lange so, und da die Inquisition uns bis jetzt noch nicht zusammengestaucht hatte, schienen wir auf
der sicheren Seite zu sein. Ich entschied mich für ein Paar Sandalen und zog sie mir an.
    Schließlich nahmen wir unsere Sphärs und machten sie faustgroß. Während wir auf das Mynster zuschlenderten, legten wir die geknoteten Enden unserer Korde um die Sphärs herum und webten einfache Netze, mit denen wir sie umschlossen; dann ließen wir die Sphärs einatmen und anschwellen, um die Kordnetze stramm zu ziehen. Zuletzt ließ jeder von uns seine Sphär in einem sanften scharlachroten Licht erglühen. Das Licht erlaubte uns zu erkennen, wohin wir gingen, und die Farbe sollte uns als Zehner kennzeichnen, was notwendig war, da wir uns in Kürze mit den Einsern mischen würden.
    Als all diese Vorbereitungen beendet waren, baumelte die Sphär von der rechten Hüfte herab und schwang gegen den Oberschenkel, was faszinierend aussah, wenn einige hundert von uns im Dunkeln auf das Mynster zumarschierten. Wenn man wie das Standbild eines echten Saunt aussehen wollte, konnte man die glühende Sphär mit einer Hand umfassen und mit der anderen streicheln, während man in die Ferne blickte, als sei man vom Licht des Knous hypnotisiert.
    Vierzig Avot waren früher aufgestanden und hatten sich im Chorraum versammelt. Als wir hereinkamen, sangen sie gerade die Prozessionshymne zur Jahrzehntapert. In diesen Gesang war eine Melodie hineingewoben, die ich zehn Jahre lang nicht gehört hatte, genauer gesagt, seit ich bei Sonnenaufgang diesseits des Jahrzehnttors gestanden und zugeschaut hatte, wie seine Stein-und-Stahl-Flügel sich knirschend vor allem schlossen, was ich bis dahin kennengelernt hatte. Dass diese Melodie jetzt erklang, fuhr mir so tief ins Bewusstsein, dass ich buchstäblich das Gleichgewicht verlor und mich an einen anderen Fraa anlehnte: Lio, der das ausnahmsweise nicht als Vorwand nutzte, um mich mit einem Hüftschwung auf den Boden zu werfen, sondern mich wieder aufrecht hinschob, als wäre ich ein krummes ikonisches Zeichen, und seine Aufmerksamkeit erneut dem Aut zuwandte.
    Die Musik war vollständig mit der Uhr synchronisiert, die als Metronom und Dirigentin diente. Sie dauerte noch eine weitere Viertelstunde: keine Lesung, keine Predigt, nur Musik.
    Der Himmel war klar, und so strömte im Augenblick des Sonnenaufgangs Licht vom Quarzprisma oben am Sternrund den Schacht hinunter. Die Musik hörte auf. Wir ließen unsere Kugeln erlöschen.
Ich hatte den Eindruck, dass das Licht von oben anfangs smaragdfarben war, aber vielleicht spielten mir meine Augen auch nur einen Streich; nachdem ich ein Mal geblinzelt hatte, war die Farbe zu der eines Handrückens geworden, durch den jemand in einer dunklen Zelle ein Licht leuchten lässt. Es herrschte ein unerträglicher Moment der Stille, als wir alle fürchteten, dass (wie in meinem Traum) die Uhr falsch ging und nichts passieren würde.
    Dann begann das mittlere Gewicht zu sinken. Das geschah jeden Tag bei Sonnenaufgang, um das Tagestor zu öffnen. Doch heute war es das Signal für alle, den Hals zu recken und den Blick nach oben zu richten, wo die Säulen des Praesidiums das Gewölbe des Mynsters durchstießen. Erst hörten, dann sahen wir die Bewegung. Es passierte tatsächlich! Zwei der

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