Anathem: Roman
Gewichte sanken, liefen an ihren Schienen herab, um das Jahres- und das Jahrzehnttor zu öffnen.
Wir alle japsten und schrien und jubelten, und viele von uns mussten sich die Augen trocknen. Ich konnte sogar hören, wie die Tausender hinter ihrem Schirm darauf reagierten. Der Würfel und der Oktaeder kamen in Sicht, und alles brüllte. Wir applaudierten ihnen, als wären sie Berühmtheiten bei einer Preisverleihung. Als sie sich dem Boden des Chorraums näherten, verstummten wir, als fürchteten wir, dass sie auf den Boden prallten. Doch je tiefer sie sanken, desto langsamer wurden sie, bis sie schließlich nur eine Handbreit über dem Boden zum Stillstand kamen. Dann lachten wir alle.
In mancher Hinsicht war das lächerlich. Die Uhr war bloß ein Mechanismus, der in diesem Moment keine andere Wahl hatte, als die Gewichte sinken zu lassen. Dennoch löste dieser Anblick ein Gefühl aus, das man jemandem, der nicht dort war, nicht vermitteln kann. Eigentlich sollte der Chor jetzt einen polyphonen Gesang anstimmen, aber dazu waren die Avot fast nicht in der Lage. Die Rauheit ihrer Stimmen schuf jedoch eine ganz eigene Musik.
Draußen konnte ich unter dem Singen das Geräusch von fließendem Wasser hören.
Avot: (1) Eine Person, die gelobt hat, sich für ein oder mehr Jahre der Kartasischen Regel zu unterwerfen; ein Fraa oder eine Suur. (2) Eine Vielzahl solcher Personen. (3) Eine offiziell
gegründete Gemeinschaft solcher Personen, z. B. ein Kapitel oder ein Math.
DAS WÖRTERBUCH, 4. Auflage, A. R. 3000
»Es gibt keine richtige Methode, eine Uhr zu bauen«, pflegte Fraa Korlandin zu sagen, als er uns moderne Geschichte (nach der Rekonstitution) beibrachte. Das war seine euphemistische Art zu sagen, dass die Praxiker von Saunt Edhar leicht verrückt gewesen waren.
Unser Konzent schmiegte sich in die Biegung eines Flusses, dort wo er um das Ende einer Reihe von Felsklippen herumfloss – den Endpunkt einer Gebirgskette, die sich über Hunderte von Meilen nach Nordosten erstreckte und deren Gletscher und Schneedecken den Oberlauf des Flusses bildeten. Unmittelbar flussaufwärts gab es eine Reihe von Wasserfällen. Wenn die Dards nicht zu viel Lärm machten, konnten wir sie nachts hören. Unterhalb davon bewegte sich der Fluss, als erholte er sich von der ganzen Aufregung, über einige Meilen ruhig und gemächlich dahin und mäanderte durch eine gut entwässerte Grasebene. Ein Teil dieser Ebene und anderthalb Meilen des Flusses waren von unseren Mauern umschlossen.
Oben an den Wasserfällen war der Fluss leicht zu überbrücken, und so befand sich dort meistens eine Siedlung. Während mancher Zeitalter wuchs sie und verleibte sich unsere Mauern ein, und Büroangestellte in Wolkenkratzern blickten von oben auf unsere Bastionen herab. Zu anderen Zeiten schrumpfte sie zu einer winzigen Tankstelle oder einer Geschützstellung an der Flussquerung zusammen. Unser Stück des Flusses war gefährlich voll mit rostzerfressenen Trägern und Brocken moosüberzogenen, synthetischen Gesteins, den Überresten von Brücken, die an dieser Stelle erbaut worden und in späteren Zeitaltern zusammengefallen und flussabwärts gespült worden waren.
Ein Großteil unseres Geländes und fast alle unsere Gebäude lagen auf der Innenseite der Flussbiegung, aber wir hatten Anspruch auf einen Streifen am jenseitigen Ufer erhoben und dort unsere Bollwerke gebaut: Mauern parallel zum Fluss, wo er gerade verlief, Bollwerke in den Biegungen. Drei dieser Bastionen hatten Tore, jeweils eine das Tor des unarischen, des dezenarischen und des zentenarischen Maths (das Tor der Millenarier befand sich oben auf dem
Berg und funktionierte anders). Jedes Tor bestand aus zwei Flügeln, die zu bestimmten Zeiten auf- und zuschwingen sollten. Das hatte die Praxiker insofern vor ein Problem gestellt, als die Tore auf der anderen Seite eines Flusses und in einiger Entfernung von der Uhr lagen, die die Öffnung steuern sollte.
Die Praxiker hatten es mit Wasserkraft gelöst. Weit außerhalb unserer Mauern, oberhalb der Wasserfälle – also hoch über unseren Köpfen – hatten sie ein Becken, so etwas wie eine offene Zisterne, aus dem steinigen Flussbett gehauen; dessen Wasser ließen sie einen Aquädukt speisen, der unter Umgehung der Wasserfälle, der Brücke und der Biegung schnurgerade nach Süden auf das Mynster zuführte. Nachdem dieser einen kurzen Tunnel durchquert und sich auf steinernen Pfeilern über eine halbe Meile unebenes Gelände geschwungen
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