Anathem: Roman
immerzu ablegen. Wir rieten davon ab. Als er in diesen Raum kam, sah er darin so etwas wie einen heiligen Ort und beharrte darauf, dass das mit dem Ausziehen des Anzuges verbundene Risiko akzeptabel sei. Sein Gott werde über ihn wachen und dafür sorgen, dass ihm nichts zustoße. Also legte er den Anzug ab. Er wurde kurzatmig. Unsere Ärzte versuchten, ihn wieder in den Anzug zu stecken und diesen zu schließen, aber das half nichts mehr, weil ihm bereits ein größeres Blutgefäß geplatzt war. Als Nächstes versuchten die Ärzte ihn in eine Überdruckkältekammer zu legen, eine Therapie, in der sie sehr versiert sind. Er wurde ausgezogen und für die Prozedur vorbereitet, aber es war zu spät – er starb. Es kam zu einer Debatte darüber, was mit dem Leichnam geschehen sollte. Während einige von uns noch darüber debattierten, entnahmen übereifrige Forscher Blut- und Gewebeproben und begannen mit einer Autopsie. Der Leichnam war also bereits entweiht worden, wenn man so will. Prag Eshwar fasste den Beschluss, dass jeder Versuch einer Entschuldigung als Zeichen von Schwäche aufgefasst und dass von einem Informationsaustausch nur Arbre profitieren würde. Außerdem neigte sie aus innenpolitischen Gründen dazu, Verachtung oder wenigstens Missachtung für den Leichnam zu zeigen – weil sie ihn zu einem Symbol für mich gemacht hatte. Daher die Art und Weise, wie der Himmelswart returniert wurde.«
»Aber der Schuss ging nach hinten los«, sagte ich, »nicht wahr?«
»Ja. Den Angehörigen des Fulcrums war die Sache peinlich, und sie empfanden Scham, und deshalb fassten sie den Plan, einen Austausch von Blut gegen Blut vorzunehmen. So wie wir dem Leichnam des Himmelswarts Blutproben entnommen hatten, würden sie Proben unseres Blutes auf die Oberfläche von Arbre bringen. Wir hatten Signale von dem Planeten aufgefangen, die, wie wir später erfuhren, von Fraa Orolo gesendet worden waren. Sie erfolgten in Form eines Analemmas. Jules Verne Durand war zur führenden Autorität in Sachen Orth und Avot geworden. Insgeheim sympathisierte er mit dem Fulcrum. Er interpretierte Orolos Signal dahingehend,
dass es auf Ekba wies, und gab zu bedenken, dass es von tiefem symbolischem Wert wäre, die Proben dort abzuliefern. Doch etwa zur gleichen Zeit bekam er den Befehl, an dem Überfall auf den Konzent der Matarrhiten teilzunehmen, und stand daher nicht mehr zur Verfügung. An seiner Stelle ging Lise – natürlich ohne sein Wissen. Denn sie hatte von Jules viel über die Avot und sogar ein paar Worte Orth gelernt. Die Sache ging schief, und sie wurde, wie ihr wisst, erschossen, als sie die Sonde bestieg.«
Wir ließen einige von Worten ungestörte Augenblicke verstreichen.
»Seither hat sich die Entwicklung beschleunigt. Ich würde sagen, dass Prag Eshwar das getan hat, was Prags tun, nämlich …«
»Ohne jeden Gedanken an Strategie taktisch reagiert«, sagte Jad.
»Ja. Das hat uns in diese Lage gebracht. Einunddreißig sind von euren Fraas und Suurs getötet worden – aus dem Klingenthal, nehme ich an?«
Fraa Jad gab keine Antwort, doch Gan Odru schaute in meine Richtung, und ich nickte. Er fuhr fort: »Siebenundachtzig werden als Geiseln festgehalten – eure Kollegen haben sie in eine Kammer getrieben und die Türen zugeschweißt.«
»Eine Fehlinterpretation«, sagte Fraa Jad. »Solche Leute nehmen keine Geiseln, die siebenundachtzig wurden also zu ihrem eigenen Schutz in diesen Raum gebracht.«
»Prag Eshwar interpretiert es, ob zu Recht oder zu Unrecht, als Geiselnahme und bereitet mit einer Hand eine Reaktion vor. Die andere hat sie nach mir ausgestreckt und mich gebeten, die Sache mit euch zu diskutieren. Sie ist erschüttert. Ich weiß eigentlich nicht, warum. Die große Bombe, die zerstört wurde, war stets eine Waffe für den allerschlimmsten Fall; niemand würde ernsthaft erwägen, sie einzusetzen.«
»Verzeihung, Gan Odru, aber der Sockel hat ihren Einsatz vorbereitet«, platzte ich heraus.
»Als Drohung, ja – sie sollte über eurem Planeten schweben und Druck ausüben. Aber das ist die einzige Art und Weise, wie sie verwendet wird. Ich verstehe nicht, warum ihr Verlust Prag Eshwar so tief erschüttert hat.«
»Hat er auch nicht«, sagte Fraa Jad. »Prag Eshwar hat eine schreckliche Gefahr gespürt.«
»Woher weißt du das?«, fragte Gan Odru höflich.
Fraa Jad ignorierte die Frage. »Sie würde es vielleicht dadurch erklären, dass sie behauptet, sie habe einen Alptraum gehabt oder ihr sei im
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