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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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geschnitten. Am Anfang dachte ich, sie sei groß, vielleicht weil ich sie so in Erinnerung gehabt hatte. In Wirklichkeit war sie nicht größer als ich. Mit den ganzen an ihr festgeschnallten Eisenwaren wirkte sie stämmig, aber ihr Nacken und ihre Unterarme waren straff. Nachdem sie sich uns bis auf ein paar Schritte genähert hatte, hielt sie scheppernd an und pflanzte sich vor uns auf. Sie hatte eine ziemlich feste, entschiedene Art zu stehen. Sie sah aus, als könnte sie wie ein Pferd im Stehen schlafen.
    »Vermutlich weiß ich, wer du bist«, sagte sie zu mir, »aber wie heißt du?«
    »Jetzt Erasmas.«
    »Ist das der Name eines alten Saunts?«
    »Ganz richtig.«
    »Diesen alten Hol habe ich nie mehr zum Laufen gekriegt.«

    »Ich weiß. Ich habe ihn eben gesehen.«
    »Hab einen Teil davon hergebracht, um ihn hier mit der Maschine zu bearbeiten, und da ist er immer noch.« Sie richtete den Blick auf ihre rechte Handinnenfläche, dann schaute sie zu mir auf. Ich las darin: »Meine Hand ist schmutzig, aber wenn es dir recht ist, werde ich sie dir geben.«
    Ich streckte meine Hand aus und ergriff ihre.
    Glockengeläut flutete herein.
    »Danke, dass du uns deine Maschine hast sehen lassen«, sagte ich. »Hast du Lust, unsere zu sehen? Es ist Provene. Jesry und ich müssen los, die Uhr aufziehen.«
    »Ein Mal war ich schon bei der Provene.«
    »Heute kannst du sie von derselben Stelle aus sehen wie wir. Bon Apert.«
    »Bon Apert«, gab sie zurück. »Gut, was soll’s, ich komme sie mir ansehen.«
     
    Wir mussten quer über die Wiese laufen. Cord hatte ihre dicke Werkzeugrüstung in der Maschinenhalle zurückgelassen, aber nur, um eine kleinere, westenartige zum Vorschein zu bringen, von der ich vermutete, dass sie all das enthielt, worauf sie unter keinen Umständen verzichten wollte. Als wir zu rennen begannen, schepperte und holperte sie auf den ersten Schritten, zurrte dann jedoch ein paar Riemen fest und war danach in der Lage, mit uns Schritt zu halten, während wir durch den Klee hasteten. Unsere Wiese war von Säkularen kolonisiert worden, die dort zu Mittag picknickten. Manche grillten sogar Fleisch. Sie schauten zu, wie wir vorbeirannten, als wäre unsere Verspätung eine Vorstellung zu ihrer Belustigung. Kinder wurden nach vorne geschoben, damit sie besser sahen. Erwachsene richteten Spulocorder auf uns und lachten laut darüber, dass wir uns so anstrengten.
    Wir traten durch die Wiesentür, rannten die Treppe hinauf in einen Aufenthaltsraum, in dem sich verstaubte Kirchenbänke und Altäre an der Wand stapelten, und stolperten fast über Lio und Arsibalt. Lio saß im Schneidersitz auf dem Boden. Arsibalt hockte mit weit gespreizten Knien auf einer kurzen Bank und beugte sich vor, damit das Blut, das ihm aus der Nase rann, eine ordentliche Pfütze auf dem Fußboden bildete.
    Lio hatte eine geschwollene und blutige Lippe. Das Fleisch um
sein linkes Auge war ockerfarben und ließ darauf schließen, dass es morgen schwarz sein würde. Er starrte in eine düstere Ecke des Raums. Arsibalt gab ein schauerliches Stöhnen von sich, als hätte er geschluchzt und bekäme sich gerade wieder unter Kontrolle.
    »Kampf?«, fragte ich.
    Lio nickte.
    »Zwischen euch beiden oder …«
    Lio schüttelte den Kopf.
    »Sie sind auf uns losgegangen !«, schrie Arsibalt seine Blutlache an.
    »Intra oder extra?«, fragte Jesry.
    » Extra muros. Wir waren auf dem Weg zur Basilika meines Paters. Ich wollte nur wissen, ob er mit mir sprechen würde. Ein Fahrzeug fuhr vorbei, ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Es umkreiste uns wie ein Raubvogel im Sinkflug. Vier Männer kamen daraus zum Vorschein. Einer hatte den Arm in der Schlinge. Er schaute zu und feuerte die anderen drei an.«
    Jesry und ich sahen Lio an, der sofort wusste, was die Blicke bedeuteten.
    »Nutzlos. Nutzlos«, sagte er.
    »Was war nutzlos?«, fragte Cord. Der Klang ihrer Stimme ließ Arsibalt aufschauen.
    Lio war nicht der Typ, den es interessierte, dass wir einen Gast hatten – aber immerhin beantwortete er ihre Frage.
    »Meine Thade. Alles, was ich an Thalkunde je studiert habe.«
    »So schlecht kann sie doch gar nicht gewesen sein!«, rief Jesry aus. Was lustig war, denn im Laufe der Jahre hatte niemand Lio hartnäckiger als Jesry beizubringen versucht, wie nutzlos seine Thade war.
    Anstelle einer Antwort rollte Lio auf die Füße, glitt hinüber, packte den Rand von Jesrys Kapuze und riss sie ihm übers Gesicht hinunter. Abgesehen davon, dass Jesry jetzt blind war,

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