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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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kleine Person«, sagte ich.
    »Findest du? Ich weiß nicht. Ich meine, alle waren so besorgt um sie. Aber ich weiß nicht.«
    »Gott. Der arme Seán«, sagte ich.
    Sie warf mir einen übertrieben ausdruckslosen Blick zu.
    »Nur bedingt«, sagte sie.
    Ich wollte wissen, was sie damit meinte, aber da hatte sie sich schon abgewandt.
     
    Später betrachtete ich Megan, die sich so gesund und wohlgenährt auf dem Sofa lümmelte. Unsere Mutter machte sich frisch. Jack war in sein Nintendo vertieft. Ich wartete darauf, gehen zu können. Möglicherweise warteten wir alle darauf, dass Shay nach Hause kam. Der Abend war aus dem Ruder geraten.
    »Na, Geburtstagskind«, sagte Fiona, setzte sich hin und zog ihre Tochter an sich. »Wie fühlt es sich an, neun zu sein?«
    »Gut«, antwortete Megan.
    Wir saßen da und taten, als würden wir fernsehen. Unsere Mutter verbringt so viel Zeit im Bad, dass wir früher oft beunruhigt waren. Wir fragten uns, was sie dort oben trieb und wann sie wieder auftauchen würde. Unterdessen bürstete Megan ihrer Mutter die Haare aus dem Gesicht, bewunderte einen Ohrring und zupfte daran.
    »Vorsichtig.«
    Dann ging das Gerangel los: Megan bog die Lippen ihrer Mutter zu einem schmerzlichen Lächeln und zog ihre Augenlider zu Schlitzen, während Fiona sie nur ansah und sich weigerte, wütend zu werden. So waren sie schon immer ineinander verhakt gewesen: nicht unbedingt Liebe und nicht ganz Krieg.
    »Lass deine Mutter in Ruhe, Megan«, sagte ich. »Du bist jetzt neun.«
    Und Fiona sagte: »Ha!«
    »Es dauert nur noch zwanzig Jahre«, sagte Joan. Sie stand in Sommertrenchcoat und Seidenschal hinter uns. Die Arbeit vor dem Spiegel war getan – alles sah genauso aus wie zuvor, nur eben dieses winzige, alles entscheidende Quäntchen besser. Das übliche Wunder.
    Sie schaute mich an.
    »Wollen wir los?«
     
    Möglicherweise bringe ich hier die Reihenfolge durcheinander.
    Ich hatte mich noch nicht in Seán verliebt. Obgleich ich mich zu jedem dieser Zeitpunkte in ihn hätte verlieben können. Zu jedem. Der erste Augenblick im Garten, an dem Zaun, der nicht mehr stand. Der Moment, als er sich auf dem Campingplatz in Brittas Bay auf den Klappstuhl setzte oder sich zum Hinsetzen anschickte und alles außer uns beiden zum Stillstand kam. Ich hätte mich in einem Hotelflur in der Schweiz in ihn verlieben können, als das Schloss surrte und er stehen blieb, um mich zu küssen, statt mich durch die Tür zu nötigen.
    Aber ich liebte ihn nicht. Genau genommen stieß er mich ein wenig ab. Ich meine, geschlafen hatte ich bereits mit ihm; was sonst sollte ich mit ihm anfangen?
    Würde man mich heute fragen, würde ich natürlich sagen, dass ich von jenem ersten Blick an verrückt nach ihm war, dass ich in seine Hände verliebt war, als ich in Montreux ihren Bewegungen folgte, und dass ich von dem Moment an, als er Evie wegführte und sich in der Diele zu mir umwandte, noch in etwas anderes verliebt war – in seine besondere Art von Traurigkeit, worin auch immer diese bestand. Also fragen Sie mich nicht, wann dieses oder jenes geschah. Auf ein Vorher oder Nachher scheint es nicht anzukommen. Was mich betrifft, so geschah es die ganze Zeit über.
    Und es gab Dinge, die ich zu erwähnen vergaß – die Schönheit der Kinder an jenem Strandtag in Brittas scheint mir jetzt bedeutsamer, als mir damals bewusst war. Vielleicht liegt es an der Tatsache, dass Evie nicht wohlauf war und ich nichts davon wusste, doch die Schönheit der Kinder spielt eine Rolle auf eine Art, die mir nicht klar ist.
    Trotzdem kann ich mich hier nicht allzu sehr um Chronologie kümmern. Die Vorstellung, dass man nur eins nach dem anderen zu erzählen braucht, und schon ergibt alles einen Sinn.
    Es ergibt keinen Sinn.
    Meiner Mutter widerfuhr dieses altmodische Ding: ein leichter Tod. Aber noch nicht.
    Und ich war in Seán verliebt, aber noch nicht so, dass ich es wusste.
    Noch nicht.
    Ich war im Begriff, meinen Mann zu verlassen, aber vielleicht hatte ich das längst getan. Möglich, dass wir nie zusammen gewesen waren – in all der Zeit, da wir zusammen zu sein glaubten. Als er sich vor dem Traualtar der Kirche von Terenure umdrehte und mich anlächelte. Als er unter mir hindurchtauchte, so tief, dass man sehen konnte, wie das Wasser zwischen uns sich zu Grün verdickte.
    Gewiss gibt es Daten, deren ich mir sicher bin, aber es sind keine, auf die es ankommt. Zum Beispiel kann ich mich nicht an den Tag – oder die Stunde – erinnern, als Joans

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