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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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boshaft, grandios, banal. Oder zärtlich – das, glaube ich, war am schlimmsten. Zärtlich.
    »Schau dich an. Bist du nicht entzückend?«
    Als wir Teenager waren, bekamen wir ihn kaum noch zu Gesicht. Sonntags war er zwar immer zu Hause, doch selbst dann kam er nicht vor elf aus dem Bett und ging gegen fünf wieder aus. Das macht, seien wir ehrlich, sechs Stunden die Woche, dazu etwas Lammbraten mit Minzsoße – damit konnte man so oder so umgehen. Man konnte, wie Fiona, verrückt nach ihm sein, man konnte hübsch und mustergültig sein, man konnte niedliche Zöpfe haben und Haarbänder, die nicht verrutschten, man konnte seinen irischen Volkstanz üben und seine Lieder aus Oklahoma! , oder man konnte, wie ich, finsteren Blicks herumschlunzen. Ich war gescheit. Ich meine, Fiona war auf ihre Lasst-uns-alle-eine-Zwei-plus-kriegen-Art gescheit, aber ich war richtig gescheit, denn wenn ich gescheit war, konnte mir alles egal sein.
    Jetzt, da sie ein mustergültiges Leben führt, hat meine Schwester begonnen, eine mustergültige Vergangenheit zu erfinden, die dazu passt. Sie glaubt nicht, dass unser Vater ein Trinker war – das macht schon zwei, die das glauben –, und bestimmt würde sie meine Erinnerung infrage stellen: wie wir uns auf dem Rückweg auf der Harold’s Cross Road vor Lachen aneinanderklammerten.
    »Wer bist du? Warum küsst du mich?«, hatte er zu ihr gesagt. »Und warum, mein Schätzchen, hast du aufgehört, mich zu küssen, wo wir uns gerade so nett miteinander bekannt gemacht haben?«
    Dement sein ist etwas anders als betrunken sein. Ich glaube, dass die Leute auf dieselbe Weise dement werden, wie sie unangenehm werden. Was man an ihnen nicht mag, wird immer schlimmer, bis man eines Tages merkt, dass es das Einzige ist, was von ihnen geblieben ist – ihr Getue, ihr Gehabe. Der eigentliche Mensch hat sich zur Hintertür hinausgeschlichen und ist nach Hause gegangen.
    Ich weiß nicht mehr, wie lange seine Krankheit andauerte. Zu lange. Nicht lange genug. Als die Schulferien begannen, wurden wir ins Haus unserer Oma O’Dea in Sutton geschickt, wo das Meer gegen die Gartenstufen plätscherte oder ein felsiges Ufer freilegte, und irgendwann, zwischen einer Flut und der nächsten, starb er.
    Beim Begräbnis erhielten wir ihn zurück: diesen wundervollen Menschen, unseren Vater. Die Kirche war brechend voll, das Haus quoll über von Männern in Anzügen, die dasaßen, die Hände auf lange Schenkel gestützt, und Geschichten über seinen Witz, seinen Scharfsinn, seinen verschmitzten Charme erzählten. Er war der letzte große Romantiker. Das sagte meine Mutter. Jemand hatte eine Kiste Moët geschickt, und sie bat darum, ihn auszuschenken. Sie stand auf und hob ihr Glas. Sie sagte: »Auf Miles, meinen gut aussehenden Ehemann. Er war der letzte große Romantiker.«
    Warum auch nicht?
    Dann gingen sie, und wir waren allein.
    Den ganzen Herbst über hatten wir drei eine bestimmte Art, mit Jammermiene herumzulungern – anders kann man es nicht beschreiben: Wir unterhielten uns über Kleider, Frisuren und Körpergewicht, zupften an Dingen herum, ließen sie durch unsere Finger gleiten, machten dieselben Diäten, tauschten Kleidungsstücke – und stahlen auch voneinander.
    »Hast du mein rückenfreies Oberteil gemopst?«
    »Welches Oberteil?«
    Und nichts an diesen Gesprächen war jemals befriedigend oder sollte es sein. Es ging immer nur in eine Richtung – abwärts.
    Als Fiona nur noch vierundvierzig Kilo wog, brachte meine Mutter sie zum Seelenklempner, der sagte, meine Schwester habe zu essen aufgehört, um die Zeit anzuhalten: Wenn sie ein Kind bleibe, müsse ihr Vater nicht sterben. Was zu traurig war, um wirklich hilfreich zu sein. Joan machte es sich wieder zur Gewohnheit, den ganzen Tag im Bademantel herumzulaufen, und Fiona machte es sich wieder zur Gewohnheit, Hüttenkäse zu essen. Im Kühlschrank war ohnehin nichts Essbares – jedenfalls nicht, wenn ich ihn durchforstet hatte –, und als es Frühling wurde, entdeckten wir Jungs.
    Oder ich entdeckte Jungs. Fiona tat nur so, wenn Sie mich fragen.
    Manche Leute mögen der Meinung sein, dass es schwierig ist, mit einer hübschen Schwester aufzuwachsen, aber Fiona war auf eine Weise hübsch, in der Mädchen für ihren Papa hübsch sind – und als er gestorben war, wusste sie nicht, was sie damit anfangen sollte. Ihre Schönheit war ihr gewissermaßen ein Rätsel. Und immer landete sie bei den falschen Kerlen: der Sorte, die sich ihre Freundin

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