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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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Erzählung zufolge ist er Fionas Schwester (das war ich damals für ihn) zum ersten Mal bei einem Spaziergang durch die Wälder von Knocksink begegnet. Die Kinder steckten knietief im Schlamm. Er hat keine Erinnerung an mich, wie ich auf der Party am Zaun stand.
    Doch wie immer er sich daran erinnert, es gibt etwas in Evies Geschichte, das Seán unentwegt zu begreifen versucht. Vielleicht etwas, das ihn selbst betrifft.
    Und dann gibt es Aileen.
    Gleich zu Anfang kam Evie in das Haus in Terenure marschiert und überreichte mir einen ramponierten Briefumschlag. Dann verdrehte sie die Augen und stapfte davon, um Joans mickrigen kleinen Fernseher einzuschalten. In dem Umschlag befand sich ein Informationsblatt mit der Überschrift »Was zu tun ist, wenn jemand einen epileptischen Anfall hat«. Das Blatt war an eine klägliche Notiz von Aileen geheftet – getippt, ohne Unterschrift –, die mit den Sätzen begann: »Als Evie vier Jahre alt war, wurde bei ihr eine gutartige Rolando-Epilepsie im Kindesalter (BECTS) diagnostiziert. Diese Diagnose ist kürzlich noch einmal überprüft worden.« Ich las jedes Wort. Ich verstand kein Wort. Ich fragte Seán: »Also, was fehlt ihr denn nun genau?«
    »Eigentlich nichts«, sagte er. »Es geht ihr gut.«
    Im Herbst nach der Party in Enniskerry wurde Evie, noch immer medikamentenfrei, eingeschult, und Aileen stieß auf eine ganz neue Art mit der Realität zusammen. Die sehr freundliche und sehr junge Lehrerin hörte sich ihre Geschichte an und blinzelte zweimal. Sie sagte: »Könnten Sie das bitte wiederholen?« Anschließend sprachen Seán und Aileen mit der Schulleiterin, die sie vollkommen beruhigte. Als sie schon fast aus der Tür waren, erinnerte sie sie außerdem daran, dass es in Evies Klasse neunundzwanzig weitere Kinder gebe.
    Im Oktober erlitt Evie einen Anfall, als sie kurz vor Unterrichtsschluss irgendwo anstand, und alle machten ein fürchterliches Aufhebens um sie. Aber es gab ein kleines Mädchen, das gemein war – und mit all der Weisheit, die einer Fünfjährigen zu Gebote steht, sagte Evie zu ihrer Mutter: »Weißt du, das bin einfach nicht ich.«
    Als sie das sagte, mussten sie lachen, waren aber auch beschämt. Evie meinte, all das spiele sich wohl in ihrem Inneren ab, sie selbst stehe jedoch außerhalb. Für sie war es keine Frage von Poesie oder Persönlichkeit. Es war einfach etwas Schlimmes, das ihr widerfuhr, und sie wollte, dass es aufhörte.
    Sie konnten nicht umhin, das Persönchen zu bewundern, das sie mit ihren fünf Jahren bereits darstellte, und hofften, sie möge für immer so bleiben. Aileen lenkte ein. Sie setzten sie auf ein anderes Medikament, das sie allmählich dick machte und – wiederum schwer zu sagen – möglicherweise inkontinent. Die Anfälle hörten auf. Ihre Verrücktheit schwand dahin. Wenn überhaupt, wirkte sie ein wenig stumpf, doch das mochte ein Eindruck sein, den ihr neuer Leibesumfang hervorrief – außerdem wurde sie älter. Nicht nur breiter. Als ich sie in Brittas Bay sah, war sie bereits eine andere Person. Diesmal war es Seán, der sie auf Diät gesetzt hatte – weil sie, wie ich vermute, nicht mehr dem Bild von der Mittelschicht entsprach. Er betrachtete es als Gegengewicht zu ihren Medikamenten, doch es ist gut möglich, dass Evie ihn umso stärker irritierte, je dicker sie wurde. Denn an jenem Tag in Brittas Bay wohnte dem verbotenen Eislutscher eine gewisse Verzweiflung inne – die Art, wie sie sich dort auf Fionas Campingdeck aneinanderklammerten, als wollten sie beide an Evies entschwindender Kindheit festhalten.
    Auf Dr. Prentices Anraten verringerten sie in jenem Herbst die Dosis und hörten schließlich ganz damit auf. Nichts geschah.
    Evie war ganz sie selbst – körperlich und geistig. Vielleicht wirkte sie ein wenig zurückgezogen, wachsam und eigenbrötlerisch. Als ich ihr am Neujahrstag im oberen Stockwerk begegnete, machte sie einen beruhigten, abwartenden Eindruck, wie ein Kind, das mit Gefahr vertraut ist – oder etwas schwerhörig. Sie blieb frei von Anfällen, ihre Kinderkrankheit war überwunden. Im Grunde war sie nie besonders schreckenerregend gewesen. Im Sommer der Schlagsahnediät hatte Evie vier oder fünf klassische Anfälle erlitten. Zuletzt auf dem Pausenhof, im Jahr ihrer Einschulung. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr hatte sie keine weiteren Probleme.
    Das also war, soweit ich es beurteilen kann, Evie widerfahren. Und doch ist es nicht die ganze Wahrheit. Es ist lediglich eine

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