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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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konzentrierte Form der Wahrheit.
    Denn seien wir ehrlich – vom Tag ihrer Geburt an hatte Aileen sich aufgeführt, als könnte Evie jeden Augenblick sterben. Als sie in die trüben blauen Augen des Babys blickte, entdeckte sie eine Form von Angst, die sie nie zuvor gekannt hatte. Und Evie von ihren Tabletten zu entwöhnen war einfacher, als sie von der Muttermilch zu entwöhnen. Letzteres war eine gewaltige Operation gewesen, kaum weniger nervenaufreibend als die Oper in drei Akten, die es bedeutet hatte, sie zuallererst an die Brust zu legen.
    Zwar könnte man meinen, dass Aileen ihn von sich gestoßen hat, aber wenn man die Daten studiert (was ich getan habe), wenn man die Verbindungslinien zieht und auf das Ungesagte lauscht, dann stimmt auch, dass Seán, schon bevor Evie von der Schaukel fiel und sich auf dem Erdboden die kleinen Fersen wund schlug, mindestens eine Affäre gehabt hatte. So geschieht es doch in Wahrheit, oder? Ich meine, in der wirklichen Welt gibt es nicht einen einzelnen Moment, in dem eine Beziehung sich wandelt, es gibt keinen eindeutigen Zusammenhang von Ursache und Wirkung.
    Oder vielleicht ist die Wirkung eindeutig und die Ursache schwieriger zu ergründen.
    Viele Jahre später, wenn man mit seinem neuen Partner im Restaurant sitzt, kommt die Wirkung auf einen zugegangen und sagt: »Sieh mal einer an. Wen haben wir denn da?«
    Ich glaube, seine erste Affäre war die mit der Globalsteuerfrau, der Frau auf der Konferenz in der Schweiz. Wenn man nach den Daten ging, handelte es sich schätzungsweise um eine Reihe schauriger, geiler kleiner Treffen, als Evie noch in den Windeln lag. Das kleine Fenster in seinem Herzen, das sich in Fionas Küche öffnete, als diese mit Jack schwanger war – da zählte Evie gerade mal drei Jahre. Als er Fiona an jenem Tag von dem Kummer seiner Frau erzählte, hatte seine Frau vielleicht gute Gründe, bekümmert zu sein. Es sei denn, sie war überhaupt nicht traurig, und er suchte nur nach einem Gesprächsvorwand.
    Um die Zeit, als ich ihm in Brittas Bay begegnete, soff die Kaugummifrau, wie ich sie bei mir nenne, die mit dem Nagellack und der Zwei im Mathe-Leistungskurs, wie eine Zweiundzwanzigjährige und baumelte von Geländern. Ich muss an seinen Körper am Strand denken, und heute kommt er mir anders vor. Seine kräftigen Beine und sein fester Rücken, als er am Rand des Wassers stand, während seine Frau sich im Sand aus Evies Umklammerung löste; die behaarten Brustwarzen, die er mit einem schwarzen T-Shirt bedeckte, während wir dasaßen und uns unterhielten: Das alles erscheint mir heute wie eine andere Art Nacktheit – überschattet von den Berührungen einer anderen Frau, heimlich umschlossen von ihren Armen. Eingebildeter kleiner Mistkerl. Kein Wunder, dass er sich so auf die Ellbogen stützte und das Gesicht zum Himmel hob.
    Ich weiß nicht, warum ich mir über seine Seitensprünge Gedanken mache, wenn ich doch selbst einer davon war. Ich sollte es als Beweis dafür nehmen, dass er Aileen nie geliebt hat, obwohl ich glaube, dass er sie einst geliebt haben muss. Liebte er an jenem Tag in Brittas Bay meine Schwester? Oder all die Frauen all die Zeit? Es kümmert mich nicht.
    Jetzt liebt er mich. Oder jetzt liebt er auch mich.
    Oder.
    Ich liebe ihn. Und das ist mehr, als irgendeiner von uns wissen kann.

The Things We Do for Love
     
    Das Erste, was ich am Morgen höre, ist das Telefon.
    »Gehst du zur Arbeit?« Es ist Seán.
    »Ich glaub schon.«
    »Gut«, sagt er. »Danke.«
    »Wo bist du?«, frage ich, aber er ist schon weg.
    Er ist auch nicht neben mir im Bett – wie ich erkenne, als ich das Handy auf die Decke zurückfallen lassen. Es ist halb neun. Etwas an dem Licht draußen ist zu weiß. Ich stehe auf, ziehe in der Düsternis des Zimmers die Vorhänge aus grauem Leinen zurück und sehe eine durch Einfarbigkeit abgeflachte Welt.
    Ich veranstalte den Wintersprint durchs eisige Zimmer, dusche, kleide mich an, greife nach dem Handy und finde eine SMS vor:
    »Kannst du Ev in Foxrock abholen?«
    Worauf ich antworte: »Habe Besprechung. Gehe zu Fuß in die Stadt.«
    Ich kann mir nicht vorstellen, wie Evie aus Enniskerry, das völlig eingeschneit sein muss, herausgelangen soll. Die Schulen sind geschlossen. Ich sehe keine Autos auf den Straßen, und als ich den Fernseher einschalte, zeigt er nur Bilder von erstarrter Konfusion, stillem Chaos. Außer improvisierten Schlitten und Schneebällen bewegt sich nichts.
    Man sollte meinen, dass sie an einem

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