Anatomie einer Affäre: Roman
solchen Tag einfach zu Hause bleiben würde. Doch von diesen Dingen weiß ich nichts – von den Gründen, weshalb Evie bleibt, oder von den Gründen, weshalb sie geht. Es sind tief greifende Kräfte am Werk, gewichtige Imperative. Wie Felsen entlang einer Verwerfungslinie müssen wir uns Millimeter für Millimeter voranarbeiten, aus Furcht vor dem Beben.
Um zehn Uhr dreißig eine weitere, ziemlich überflüssige SMS von Seán: »Moment noch …«
»Ich halte den Atem an«, schreibe ich – und lösche den Text gleich wieder.
Seit seine Tochter in mein Haus kam, ist das Leben ein einziges langes Gehader um Absprachen: Zeiten, Orte – abholen, hinbringen, übergeben. Und alles muss man eigenhändig tun. Aus irgendeinem Grund kann man nicht einfach jemanden – die Mutter einer Freundin, die Schauspiellehrerin oder wen immer – darum bitten, das Kind in ein Taxi zu setzen. Ich meine, wie viel ist meine Zeit wert? Wie viel ist Seáns Zeit wert? Sicher mehr als der Zehner für das Fahrgeld. Aber man kann Töchter nicht in Taxis setzen. Eine Tochter in ein Taxi zu setzen, das ist, als würde man einen Fremden bitten, sie bei laufendem Taxameter zu missbrauchen.
»Ev ca. 15.30 Dawson St. abholen?«
»OK. Wann kommst du?«
»Haltestelle 145er Bus.«
»Wann kommst du?«
»Am Ball!!!!«
»Budapest gut?«
Er antwortet nicht.
Ich habe diesem Mann das Leben gerettet, aber es gibt Dinge, von denen ich nichts wissen darf – nichts wissen muss. Geldangelegenheiten zum Beispiel. Ich weiß nicht, ob er in Budapest ohne Verluste davonkommt oder was mit seinem Haus am Strand passiert, das jetzt ebenfalls zum Verkauf ansteht. Fairerweise will ich sagen, dass er es vermutlich selbst nicht weiß. Ich meine, es ist schon in Ordnung. Alles ist in Ordnung, solange niemand nachgibt, solange niemand den ersten Schritt tut. Derweil findet sich alles im Internet: die Muschelschalen auf den Fensterbänken in Ballymoney, und ob vor dem Haus in Clonskeagh schon ein »Verkauft«-Schild steht – jeder kann die Seiten anklicken und ignorieren. Seán und ich haben einen ganzen Wurf von »Zu verkaufen«-Schildern ins Leben geliebt. Und niemand hat vor, irgendetwas zu kaufen. Nicht bei diesem Schnee.
Um elf rufen meine Gesprächspartner an, um die Besprechung abzusagen, genau wie ich es mir gedacht hatte. Ich halte mein Handy und betrachte es, überlege, wem ich worüber simsen könnte. Dann lege ich es beiseite.
Am verrücktesten finde ich, dass mir nicht gestattet ist, direkt mit ihnen zu reden – weder mit Aileen noch mit Evie. Ich bin eine erwachsene Frau, die berufstätig ist und ein Gehalt bezieht, und mir ist nicht gestattet, mit den Menschen zu reden, die meine Samstage nach Belieben retten oder ruinieren können. Ich darf den Telefonhörer nicht einmal anheben.
Es ist, wie ich Fiachra gegenüber bemerke, als bekäme ich jeden Mist ab, aber keine Liebkosungen. Nicht dass ich mir Liebkosungen wünschte: Evie (bin ich die Einzige, der das auffällt?) ist schließlich kein Kind mehr.
Sie ist fast zwölf. Letzten Herbst hatte Evie einen Wachstumsschub, doch obwohl sie sich mit ihrem Vater verglich – Kinn! Ohrläppchen! Stirn! –, hat sich der Wachstumsschub noch nicht in tatsächliche Kubikzentimeter umgesetzt: so viel Mädchen, so viel Luft. Sie mag sich noch so entzückt brüsten, ihr Vater noch so stolz wirken – ihre Maße hat sie noch nicht zur Kenntnis genommen.
Also setzt sie sich genau wie früher auf die Knie ihres Vaters oder, besser gesagt: lässt sich auf seinen Schoß plumpsen: »O Gott. Evie«, und er weicht zurück, um seine Kronjuwelen in Sicherheit zu bringen, und duckt sich zur Seite, damit ihr Schädel ihm nicht die Nase zertrümmert. Man sieht ihn kaum hinter ihrem üppigen, weißen, leuchtenden Fleisch. Gekleidet ist sie wie eins der Mädchen, die man an Samstagabenden in einen Abfalleimer kotzen sieht: zerrissene schwarze Strumpfhosen unter Jeansshorts (Aileen durchforstet die Billigläden nach Sachen, die sie zu tragen bereit wäre, und versucht dann, etwas Entsprechendes in teureren Boutiquen aufzutreiben), und sie sitzt buchstäblich auf ihm drauf, statt auf seinem Knie zu hocken, und die beiden fühlen sich dabei ganz fröhlich und natürlich, bis sie es plötzlich nicht mehr sind.
»Runter jetzt, Evie.«
»Oooch.«
»Runter!«
Manchmal hat er Erfolg, und manchmal darf sie sitzen bleiben. Ihr Gesicht vor seinem ist runder, die Lippen sind weicher, und ihre Augen, obwohl sie die gleiche Form und
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