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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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finden, wo die Gegenstände begannen und der leere Raum endete.
    »Es ist nicht nötig, die Mauer zu berühren, Evie.«
    Seán schien zu befürchten, sie könnte sich die Fingerkuppen aufritzen – und da war noch etwas anderes: die Vorstellung von Verunreinigung, ob sie nun die Dinge beschmutzte oder von ihnen beschmutzt wurde. Wie wir wissen, ist Seán von der peniblen Sorte, und Evie spielt mit seinem Ekel, wie geringfügig auch immer. Sie tut nichts, was wirklich tabu ist, sie würde nicht ungestraft davonkommen. Außerdem ist sie in einem sittsamen Alter. Was ihre galoppierende Körperlichkeit betrifft, ist sie übertrieben heikel, redet nie über Sex und findet es ganz und gar ordinär, wenn Erwachsene es versuchen.
    »Also echt.«
    Aber sie kratzt ihre Kopfhaut in ein aufgeschlagenes Buch. Auf Tastaturen, Fernbedienungen und Telefonen hinterlässt sie klebrige Schmierspuren. Sie zwirbelt ihr Haar oder lutscht daran, fühlt sich in ihrem BH zutiefst unbehaglich – was ich gut nachempfinden kann, denn der ist eine lebenslange Strafe –, zupft unentwegt an ihrer Unterwäsche und stopft sie wieder hinein. Abgesehen davon – und auch das macht auch mir zu schaffen – zieht sie ihren Schnodder hoch, statt ein Taschentuch zu benutzen.
    Auf seine Weise ist all das unglaublich wirkungsvoll. Obwohl sie den Eindruck macht, alledem ausgeliefert zu sein, und vielleicht ist sie das ja auch, ist es die beste und schnellste Art, ihren Vater auf die Palme zu bringen.
    »Evie, bitte!«
    »Was?«
    Aber sie weiß auch, als hätte sie ausführlich darüber nachgesonnen, den geradesten und einfachsten Weg zu seinem Herzen. Nicht nur, indem sie ihn mit ihren grauen Augen anschaut, was für jeden ausreichen sollte, was auch für mich fast ausreicht. Nicht nur, indem sie gut in der Schule ist und eine nahezu demonstrative Abneigung gegen Jungen hat. Nein, Evie hat sich mit dem reichsten Mädchen der Klasse angefreundet. Was in Evies Klasse, dort draußen in der Grafschaft Wicklow, verdammt reich ist. Tatsächlich besitzt der Vater von Evies bester Freundin (blond wie ihre Mutter, mit schönen schlanken Knien) Häuser und Hotels, ganze Wohnblocks – von Tralee bis Riga.
    Ihr Name – und dafür muss man ihre Eltern bewundern – ist Paddy.
    Sie arbeiten an einem gemeinsamen Projekt über Läuse an Pferden. Paddy liefert die Pferde. Ich habe nicht gefragt, ob Evie die Läuse liefert.
     
    Und manchmal ist alles perfekt: wenn sie auf dem Sofa sitzen und sich Father Ted ansehen, oder draußen im Freien, oder wie sie im Auto miteinander reden, denn Reden ist Seáns Stärke, und bei seiner Tochter gibt es keinen Charme und keine Schuldvorwürfe, es gibt nur Seán. Ich lausche dem entspannten Ton, den er ihr gegenüber anschlägt, und denke: Mit mir redet er nie so .
    Er hält nicht meine Hand. Er kitzelt mich nicht kurz, damit ich ihm nicht in die Quere komme. Er schiebt mich nicht im Tangoschritt durch die Diele und biegt mich hintenüber. Er wacht nachts nicht auf und denkt an mich.
    Ich habe ihm das Leben gerettet.
    Wovor?
    »Du hast mir das Leben gerettet«, hat er gesagt.
    Aber wenn Sie mich fragen, dann rettet ihm nicht die eine oder andere Geliebte das Leben. Es ist die Frau, die er liebt, aber nie begehren kann: Evie.
    »Evie, nimm die Ohrstöpsel raus.«
    Evie, die geistesabwesend ist oder vor einem Bildschirm oder einem Buch träumt. Evie, der es nicht gelingt, sich zu konzentrieren, voranzukommen, zu sich selbst zu finden.
    Evie stand stundenlang vor dem Spiegel, ließ Haare und Neurosen sprießen, war bis zum Abwinken launisch. Und es ist so ungerecht, dass ein Mädchen vor Hormonen nur so strotzt, wenn es noch in einem Hello-Kitty-Pyjama steckt. Es ist, als würde niemand die Wahrheit sagen, oder als wüsste niemand, welche Wahrheit es sein soll.
    Eines Abends bin ich einfach zu ihr ins Bad gegangen. Evie lässt immer die Tür offen, wenn sie im Badezimmer ist: Evie, lebst du noch, oder bist du durch den Abfluss gerutscht? Gewöhnlich schwatzt sie einfach drauflos – allein bei der Berührung mit warmem Wasser scheint sie vor sich hin plappern zu wollen –, und ihr Vater lässt sie gewähren, hört zu oder gibt vor zuzuhören, während er ausgestreckt auf unserem Bett im Zimmer gegenüber liegt.
    Doch an diesem einen Abend war sie verstummt, und zwischen einem Satz und dem nächsten ging ich durch die Tür.
    Evie zog den Schwamm hoch, um ihre kleinen knospenden Brüste zu bedecken, und blickte mich aus riesigen grauen

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