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Anatomie

Anatomie

Titel: Anatomie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bass jefferson
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faszinierend.«
    »Wahrscheinlich«, stimmte ich ihm zu. »Was ist mit der Mutter? Wie würden Sie die Familiendynamik beschreiben?«
    »Nun, ich würde sagen, der Reverend ist ein großer Fan vom heiligen Paulus: ›Die Weiber seien untertan ihren Männern‹, so was in der Art. Ich glaube, sie hatte an der Seite dieses Mannes nicht gerade ein besonders leichtes oder gar schönes Leben. Für die Söhne war es auch ziemlich hart.«
    »Inwiefern?«
    »Nun, sagen wir einfach, wenn es des großzügigen Einsatzes des Streichriemens bedurfte, um seine Jungen auf dem schmalen geraden Pfad der Tugend zu halten, dann hat der Reverend nur seine Christenpflicht getan.« Er sagte dies mit einem zornigen Blick, der mir verriet, dass er wahrscheinlich mit eigenen Augen mit angesehen hatte, wie einer der Kitchings-Jungen die eine oder andere Tracht Prügel bekommen hatte.
    »Aber warum haben Tom und Orbin sich so unterschiedlich entwickelt«, fragte ich, »wenn sie doch aus derselben rauen Umgebung kamen? Ich will damit nicht sagen, Tom sei aus dem Schneider – schließlich bin ich mir ziemlich sicher, dass er die Mordermittlungen behindert –, aber im Grunde seines Herzens scheint er mir kein schlechter Kerl zu sein. Anders als Orbin, der wirklich bis ins Mark böse zu sein scheint.«
    »Verdammt richtig«, brummte Waylon. »Das gemeinste Stück Scheiße auf der Welt.«
    O’Conner lächelte ein wenig. »Ich würde sagen, Sie sind ein ziemlich scharfsinniger Menschenkenner, Doc. Er ist böse bis ins Mark. Ich weiß nicht recht, warum. Ich meine, warum entwickeln sich manche missbrauchten Kinder zu Serienmördern, während andere mitfühlende Ärzte, Lehrer und Sozialarbeiter werden?«
    Ah, das Problem des Bösen. Ich hatte viele fruchtlose Stunden über diesem Rätsel gegrübelt. »Ich schätze, es war schwer, Toms kleiner Bruder zu sein«, vermutete ich.
    »Sehr schwer«, sagte O’Conner. »Und das ist es heute noch. Der Heiligenschein ist inzwischen ein bisschen angelaufen, aber Tom Kitchings war Cooke Countys Goldjunge. Zu Hause hat er nicht viel Zuneigung und Bestätigung bekommen, aber für den Rest des Countys war Tom praktisch ein Gott. Hat das Football-Team der Highschool zu zwei Meisterschaften geführt und anschließend auch den Tennessee Volunteers zu zwei Titeln verholfen. Er sah gut aus, war ziemlich klug und sehr sympathisch. Orbin weniger. Man wird leicht zum Fiesling, wenn man sein ganzes Leben lang gewogen und für zu leicht befunden wird. Zum Teufel, selbst heute noch spielt Orbin für Tom die zweite Geige. Wie die uralte Geschichte von Kain und Abel, was? Orbin kann seinem Bruder entweder das Hirn aus dem Schädel prügeln wie Kain, oder er kann Schwächere wie Vern zum Prügelknaben machen. Das hat er fast sein ganzes Leben schon so gemacht.«
    Das klang ziemlich einleuchtend. »Sie vermuten also, dass Orbin allein auf eigene Rechnung handelt, wenn er Pot-Farmern und Hahnenkampf-Veranstaltern die Daumenschrauben ansetzt? Oder halten Sie es für möglich, dass Tom mit ihm unter einer Decke steckt?«
    Er runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht. Als er jünger war, hätte Tom sich nie im Leben für so etwas hergegeben. Aber als er jünger war, stand ihm auch die ganze Welt offen. Er musste mit einigen schweren Enttäuschungen fertig werden, und man weiß nie, ob jemand aus dem Tal der Finsternis als stärkerer Mensch hervorgeht oder als schwächerer.«
    Als er das sagte, überlegte ich, ob ich einen stärkeren oder einen schwächeren Jim O’ Conner vor mir hatte als den, der Leena Bonds den Hof gemacht hatte. Dann überlegte ich, ob er es mit einem stärkeren oder einem schwächeren Bill Brockton zu tun hatte als dem, der Kathleen verloren hatte. Ich dachte an mein letztes Telefonat mit Jeff, und da wusste ich die Antwort. Ich schwor mir, ihn anzurufen und mich bei ihm zu entschuldigen.
    »Zum Teufel, das war genug Stammtischpsychologie für heute«, sagte O’Conner und kippte den Rest seines Whiskeys hinunter. »Waylon sollte Sie jetzt zurück zu Ihrem Wagen fahren.«
    »Kann Waylon wirklich noch fahren?«
    »Zum Teufel, Doc, ich könnte die Strecke mit verbundenen Augen finden«, sagte Waylon.
    »Er scherzt nicht – ich habe ihn das schon tun sehen.« O’Conner lachte. »Bis Waylon den Whiskey mal spürt, bräuchte er mindestens noch drei, und selbst dann wäre er ein besserer Fahrer als Sie und ich stocknüchtern.«
    Voller böser Vorahnungen stieg ich mit Waylon in den Pick-up. Ich kurbelte das

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