anderbookz Short Story Compilation II
»Nein, ich bin eine Frau.« Und dann ohne Worte, Du weißt, ich bin eine Frau. Und du weißt, ich bin eine Frau, wie du nie eine gekannt hast und auch deine Mutter nicht, im Leben wie im Tode. Ich bin wie du eine Frau und noch mehr.
Das Mädchen setzte zum Sprechen an, aber die Kehle war ihr wie zugeschnürt, die Nerven überspannt. Staunend erkannte sie: Vor ihr saß eine Frau, deren Antlitz, allen draufgepinselten Farben zum Trotz, dem der Mutter ähnelte.
Streng und fürsorglich zugleich wurde sie angeschaut. Doch hinter Gildas dunkelbraunen Augen taten sich Wälder auf, mächtige Baumwurzeln und Pfeile, seltsame Bilder, die das Mädchen nie zuvor gesehen hatte. Sie zwinkerte kurz, und ihr forschender Blick machte sich erneut auf die Reise. Jetzt sah sie nur eine zierliche Frau, die, ohne einen Happen zu essen, an einem Glas Wein nippte und sie mit einem durchdringenden Blick aus ihren dunklen und zugleich hellen Augen beobachtete.
Als das Mädchen aufgegessen hatte und sich zurücklehnte, ergriff Gilda das Wort: »Du brauchst mir nichts zu erzählen. Das übernehme ich. Hör zu und merk dir, falls dich jemand fragt: du bist neu hier. Meine Schwester hat dich als Geschenk zu mir geschickt. Du kommst aus Mississippi. Jetzt lebst du hier und arbeitest für mich. Das ist alles, hast du verstanden?« Das Mädchen hatte verstanden und schwieg. Sie stellte keine Fragen. War müde. Je mehr sie von dieser Welt der Weißen sah, um so mehr wuchs ihre Angst, sich nicht länger vor den Besitzern der Plantage und den Kopfgeldjägern verstecken zu können.
»In der Kommode findest du Bettücher. Die Chaiselongue ist bequem. Geh jetzt schlafen. Wir werden früh aufstehen, meine Kleine.« Ein strahlend junges Lächeln überzog Gildas hageres Gesicht. Sie löschte eine Lampe und ging rasch hinaus. Das Mädchen faltete ein Laken und eine dicke Wolldecke auseinander und breitete sie aus, erstaunt, wie frisch sie dufteten und wie weich sie sich den kurvigen geschnitzten Beinen der Chaiselongue anschmiegten. Fast mit Bedauern machte sie beim Hineinschlüpfen die Glätte der Tücher zunichte. Sie versuchte einzuschlafen.
Diese Frau, Gilda, sah in ihre Seele. Das stand fest. Die Erkenntnis schreckte das Mädchen indes nicht, denn sie selbst konnte in Gildas Seele blicken. Das machte sie ebenbürtig.
Das Mädchen dachte darüber nach, was sie gesehen hatte, als die Frau sich ihr offenbarte, und was ihr Vertrauen einflößte: Ein Stück Weges, der sich in sanftem Schwung zum Horizont hin verjüngte; das Rauschen von Wind und Blättern, so zart, als streiche ein Kleidersaum über den Teppich. Mit geschlossenen Augen schaute sie den Weg hinunter, bis der Tiefschlaf ihr den Traum raubte.
Vor der Tür lauschte Gilda einen Moment der Unruhe des Mädchens . Und besänftigte sie mühelos kraft ihrer Gedanken. Aus dem Untergeschoß drangen Musik und Wortfetzen herauf, doch Gilda ließ sich nicht ablenken und forschte weiter in den Splittern ihrer Vergangenheit. Es war beunruhigend, daß sie sich just in dem Augenblick zeigten, da sie in dem essenden Mädchen sich selbst wiederfand. Nach all den Jahren der bewußten Abkehr von der Vergangenheit war die Erinnerung nurmehr vage, mehr ein Nebel denn ein Flutwelle.
Sie konnte sich, wenn sie die Augen schloß, in ihre Mädchenzeit zurückversetzen, an jenen Ort, dessen Namen sie lange vergessen hatte. Sie sah Menschen beieinander stehen, deren Gesichter glänzten. Und sie war eine von denen. Der kräftige Geruch der Körper hüllte sie ein, während sie über ausgedörrte Erde schritten. Vor ihr gebeugte Rücken und staubbedeckte Sandalen. Sie hielt die Hand einer Frau, ihrer Mutter gewiß, und irgendwo weiter vorn ging ihr Vater. Wo waren sie? Tot, was sonst. Ausgelöscht. Gilda erinnerte sich nicht einmal an ihre Gesichter. Wußte nicht, wann ihr denn Augen und Münder entglitten waren. Und der Klang ihrer Stimmen? Nein, geblieben war ihr einzig die Erinnerung an eine von Wohlgeruch begleitete Massenwanderung, in deren Schlepptau sie sich befand, und an die dunkle Farbe von Blut, das im Sand versickerte.
Sie dachte an das ewige Weiterziehen und verzog das Gesicht. Davon frei zu sein war ihr größter Wunsch. Sogar in jener mythischen, nebelhaften Vergangenheit war sie, einer Nomadin gleich, immer weiter gezogen, von Heimstatt zu Heimstatt. Von Krieg zu Krieg. Wessen Herrscher? Wessen Volkes? In den verflossenen drei oder auch mehr Jahrhunderten hatte sie so viel irgendwann hinter sich
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