anderbookz Short Story Compilation II
trug Reithosen und eine schwere Jacke.
Gildas zierliche Gestalt bewegte sich wie ein Pferdegespann, das auf durchweichter Straße eine schwere Last zieht: behutsam und zäh. »Mach schon, Mädel, ich könnte dich gebrauchen!« Gilda nahm das Mädchen in beide Arme und trug es nach draußen zu ihrem vierrädrigen Buggy. Sie hüllte sie in ein warmes Tuch und hielt sie mit einer Hand fest gepackt, indes sie den Buggy zur Straße lenkte.
Eine knappe Stunde später brachte Gilda das Gefährt am Rande der Stadt vor einem großen Gebäude zum Stehen, das eher einem Hotel denn einem Herrenhaus glich. Überrascht bemerkte das Mädchen , daß sämtliche Fenster hell erleuchtet waren, als würde ein großes Fest gefeiert. Neben dem Haus warteten mehrere Buggys und Bedienstete in Livree. Zur Linken befand sich ein kleiner offener Stall mit gesattelten, Heu mampfenden Pferden. Sie drehten ihre Köpfe zu Gildas Pferd, das abgehetzt schien. Und im Kielwasser des Buggy der Geruch von Angst. Die Pferde trippelten auf der Stelle, sie schnaubten kurz, und die Unruhe war vorüber. Fressen, von nichts und niemandem belästigt, war nun wieder ihre einzige Sorge. Gilda hielt das Mädchen fest am Arm, während sie an den satten, empfindsamen Pferden vorbei zum Hintereingang des Hauses ging. Sie betraten eine gewaltige Küche, in der zwei Frauen - eine Farbige und eine Weiße - Platten mit Truthahn- und Schinkenscheiben belegten.
»Macey, bring bitte ein Tablett mit Speisen auf mein Zimmer«, sagte Gilda zur weißen Küchenhilfe, »außerdem warmen Wein; aber zuerst heißes Wasser.« Ohne ihren Schritt zu verlangsamen, zog Gilda das Mädchen die Treppe hinauf zu ihren eigenen zwei Räumen. Sie betraten ein reich möbliertes Wohnzimmer, das an der Nordwand ein kleines gut gefülltes Bücherbord aufwies. Gemälde und Skizzen bedeckten die gegenüberliegende Wand. Davor stand ein weicher, von einem leuchtend bunten Überwurf bedeckter Diwan.
Diesem Zimmer fehlte das Überladene der Gemächer im Erdgeschoß. Nur wenige Besucher des Woodard-Hauses - der Name war geblieben, obwohl es dieser Familie längst nicht mehr gehörte - hatte Madame je in ihre Privatgemächer gebeten. Hierhin zog Gilda sich gegen Morgen zurück, hier verbrachte sie ihren Tag mit Lesen, ganz für sich allein, es sei denn eines der Mädchen oder Bird gesellten sich zu ihr. Woodard’s war das erfolgreichste Etablissement der Region, und die angesehensten Männer und Frauen zählten zu seinen Kunden. Die Spieltische, die musikalischen Darbietungen und die Séparées waren stets gut besucht. Acht Mädchen, keines über zwanzig, waren in Gildas Diensten, sie wohnten bei ihr und leisteten harte Arbeit, dem Traumbild ihrer Kunden von einer Frau zu entsprechen. Seit fünfzehn Jahren managte Gilda Woodard’s; sie hatte das Haus und die Mädchen liebgewonnen. Die anderthalb Jahrzehnte waren ein wunderbar heimeliges und doch winziges Segment jener dreihundert Jahre, die ihr Leben umfaßte. Gildas Privatgemächer bargen die Schätze ihrer unterschiedlichen Biographien.
Aus einer offenen Truhe holte sie ein Handtuch und ein Nachthemd. Weit geöffnete Augen schauten flüchtig zu ihr hin, rührten an der Last der Jahrhunderte auf ihren Schultern. Vor dem rätselnden Blick des Mädchens schien Gildas Alter gar nicht so grotesk. Einen Augenblick lauschte Gilda dem kehligen Gelächter, das von unten heraufdrang - der musikalische Teil des Abends hatte soeben ohne sie begonnen -, und ganz schwach vernahm sie Birds tiefe Stimme, die das Programm ankündigte. Die Stammkunden brüsteten sich gern damit, daß Woodard’s als einziges Etablissement ein »Indianermädchen« hatte. Auch wenn Bird nurmehr bei der Verwaltung half, kam so mancher Kunde allein ihretwegen, um sie in dem schmiegsamen, schmucklosen Baumwollkleid der Woodard-Frauen zu betrachten. Bisweilen zierten Birds Haare oder ihr Kleid schmale perlen- oder federbesetzte Lederstreifen. Für die Städter gehörte sie zu den lokalen Sehenswürdigkeiten.
Gilda legte Kleidungsstücke heraus, als Macey mit zwei Eimern warmen Wassers hereinkam. Sie schaute verstohlen zu dem Mädchen , während sie das Wasser in eine Zinkwanne goß, die neben einem verzierten Wandschirm in der Zimmerecke stand.
»Zieh die Kleider aus und wasch dich. Dann zieh das hier an.« Gilda sprach langsam, mit Bedacht, wohl wissend, daß sie sich zwischen zwei Wirklichkeiten bewegte. Wichtiger waren die stummen Worte. Ruhe. Vertrauen. Zuhause.
Das Mädchen
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