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anderbookz Short Story Compilation II

anderbookz Short Story Compilation II

Titel: anderbookz Short Story Compilation II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Carol Oates , Peter Straub , Jewelle Gomez , Thomas M. Disch , Ian Watson , Robert Silverberg
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unter dem Spiegel? Jemand, der dort steht und in den Spiegel schaut, sieht das Bild von Schiffen, die mit bloßem Auge von hier aus noch gar nicht zu erkennen sind. Der Spiegel vergrößert alles.
    »Glaubst du das?«
    Sie nickte in Richtung des Führers. »Er hat es behauptet. Und er hat uns auch erzählt, daß man direkt über das Wasser die Stadt Konstantinopel sehen kann, wenn man von einem ganz bestimmten Punkt aus hineinschaut.«
    Sie ist wie ein Kind, dachte er. So sind sie alle. Er sagte: »Du hast mir heute morgen selbst erzählt, daß es nicht möglich ist, so weit zu sehen. Außerdem existiert Konstantinopel im Augenblick überhaupt nicht.«
    »Es wird«, gab sie zurück. »Das hast du mir erzählt, genau heute morgen. Und wenn es existiert, dann wird es auch im Spiegel des Leuchtturms reflektiert. Das ist die Wahrheit, da bin ich absolut sicher.« Sie drehte sich plötzlich zum Eingang der Leuchtfeuerkammer um. »Oh, schau, Charles! Hier kommen Nissandra und Aramayne! Und dort ist Hawk! Da ist Stengard!« Gioia lachte und winkte und rief Namen. »Sie sind alle hier! Alle!«
    Es drängten derartig viele Neuankömmlinge in den Raum, daß einige von denen, die vorher hier gewesen waren, sich gezwungen sahen, die Treppen am gegenüberliegenden Ende hinunterzusteigen. Gioia lief zwischen ihnen hin und her, umarmte und küßte sie. Phillips konnte sie kaum voneinander unterscheiden - es war sogar schwer für ihn, zu bestimmen, welches die Männer und welches die Frauen waren, da sie alle in dieselbe Art von losen Gewändern gekleidet waren, aber er erkannte einige der Namen wieder. Das waren ihre engsten Freunde, ihre Gruppe, mit denen sie in einem endlosen Reigen der Fröhlichkeit von Stadt zu Stadt gezogen war, in jenen vergangenen Tagen, bevor er in ihr Leben getreten war. Ein paar von ihnen hatte er schon früher getroffen, in Asgard, in Rio und in Rom. Der Fremdenführer, ein stämmiger, breitschultriger alter Temporäre, der einen Lorbeerkranz auf seinem kahlen Schädel trug, kehrte zurück und begann seine holperige Rede, aber niemand achtete auf ihn. Sie waren alle zu sehr damit beschäftigt, einander zu begrüßen, sie umarmten sich und lachten ausgelassen. Einige bahnten sich ihren Weg hinüber zu Phillips und hoben auf Zehenspitzen stehend ihre Hände, um seine Wangen mit den Fingerspitzen zu berühren, in ihrer seltsamen Geste des Grußes. »Charles«, sagten sie ernst und machten dabei zwei Silben aus seinem Namen, so wie es diese Menschen oft zu tun pflegten. »Es ist schön, dich wiederzusehen. Was für ein Vergnügen. Gioia und du - ihr seid so ein schönes Paar. Ihr paßt so gut zusammen.«
    Stimmte das? Er vermutete, daß sie recht hatten.
    Im Raum herrschte ein derartiges Stimmengewirr, daß der Führer überhaupt nicht mehr zu verstehen war. Stengard und Nissandra hatten New Chicago wegen der Wasserspiele besucht, Aramayne berichtete von einem Fest in Ch’ang-An, das mehrere Tage gedauert hatte, Hawk und Hekna waren in Timbuktu gewesen, um die Ankunft der Salzkarawane zu sehen, und wollten bald dorthin zurück - in Asgard sollte eine Abschlußparty stattfinden, mit der das Ende der Stadt gefeiert werden sollte und die man auf keinen Fall versäumen durfte - die Pläne für die neue Stadt, Mohenjo-daro - wir haben für die Eröffnung reserviert, wir würden uns das um nichts in der Welt entgehen lassen - und, ja, man war wirklich dabei, danach Konstantinopel zu bauen, die Planer beschäftigten sich bereits intensiv mit der byzantinischen Forschung - so nett, dich zu sehen, du siehst gut aus, wie immer. Wart ihr schon in der Bibliothek? Im Zoo? Im Tempel des Serapis?
    Zu Phillips gewandt, sagten sie: »Was hältst du von unserem Alexandrien, Charles? Du mußt es zu deiner Zeit ja gut gekannt haben. Sieht es so aus, wie du es in Erinnerung hast?« Sie sagten immer solche Sachen. Sie schienen nicht zu verstehen, daß das Alexandrien des Pharaos und der Bibliothek zu seiner Zeit schon längst vergangen und zur Legende geworden war. Er hatte den Verdacht, daß für sie alle Plätze, die sie ins Leben zurückriefen, mehr oder weniger zur gleichen Zeit existiert hatten. Das Rom der Cäsaren, das Alexandrien der Ptolemäer, das Venedig der Dogen, das Ch’ang-An der Tang, das Asgard der Asen, nichts mehr oder weniger real als das folgende, jedes nur eine Facette der fernen Vergangenheit, der phantastischen, der unfaßbaren Vergangenheit, und sie pickten sich aus dem weit zurückliegenden Abgrund der

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