anderbookz Short Story Compilation II
hatten ja sogar ihn. Plötzlich empfand er Furcht. Fragen, die er lange Zeit nicht gestellt hatte, überfielen ihn. Wer bin ich? Warum bin ich hier? Wer ist diese Frau an meiner Seite?
»Du bist ja plötzlich so still, Charles«, sagte Gioia, die Stille nicht lange ertragen konnte. »Möchtest du nicht mit mir reden? Ich will, daß du mit mir sprichst. Sag mir, nach was du dort draußen Ausschau hältst.«
Er zuckte die Achseln. »Nach nichts.«
»Nichts?«
»Nichts Besonderes.«
»Ich habe gemerkt, daß du etwas gesehen hast.«
»Byzanz«, sagte er. »Ich habe mir vorgestellt, daß ich über das Wasser geradewegs bis nach Byzanz sehen könnte. Ich habe versucht, einen Blick auf die Mauern von Konstantinopel zu erlangen.«
»Oh, aber du kannst von hier aus gar nicht so weit sehen. Nicht wirklich.«
»Ich weiß.«
»Und außerdem existiert Byzanz überhaupt nicht.«
»Noch nicht. Aber es wird existieren. Seine Zeit kommt noch.«
»Tatsächlich?« sagte sie. »Weißt du das ganz bestimmt?«
»Aus sicherer Quelle. Ich habe es in Asgard erfahren«, berichtete er. »Aber selbst wenn ich das nicht hätte, Byzanz wäre unvermeidlich, meinst du nicht? Seine Zeit wäre sicher gekommen. Wie könnten wir Byzanz übergehen, Gioia? Es wird früher oder später zustande kommen, ich weiß es. Es ist nur eine Frage der Zeit. Und wir haben alle Zeit der Welt.«
Ein Schatten glitt über ihr Gesicht. »Wirklich? Haben wir das?«
Er wußte sehr wenig über sich selbst, aber er wußte, daß er keiner von ihnen war. Da war er sicher. Er wußte, daß sein Name Charles Phillips war und daß er, bevor er mit diesen Menschen lebte, im Jahre 1984 zu Hause gewesen war, als es solche Dinge wie Computer und Fernsehgeräte und Baseball und Düsenflugzeuge gab und die Welt voller Städte war, nicht nur fünf, sondern Tausende: New York und London, Johannesburg und Paris, Liverpool und Bangkok, San Francisco und Buenos Aires und eine Vielzahl anderer - alle zur selben Zeit. Es gab damals viereinhalb Milliarden Menschen auf der Erde; er bezweifelte, daß es jetzt auch nur viereinhalb Millionen waren. Beinahe alles hatte sich verändert, auf eine Art, die jenseits des Begreifens lag. Der Mond schien immer noch derselbe zu sein und auch die Sonne, aber in der Nacht suchte er vergebens nach vertrauten Sternbildern. Er hatte keine Ahnung, wie sie ihn von damals in diese Zeit gebracht hatten oder warum. Es hatte keinen Sinn zu fragen. Niemand hatte Antworten für ihn; niemand schien nachvollziehen zu können, was es war, das er zu verstehen versuchte. Nach einiger Zeit hatte er es aufgegeben zu fragen, schließlich hatte er sogar fast völlig aufgehört, es wissen zu wollen.
Gioia und er erstiegen den Leuchtturm. Sie lief voraus, in Eile wie immer, und er folgte ihr in seiner ruhigeren Art. Scharen von Touristen, meist in Gruppen zu zweit oder zu dritt, stiegen über die Steinplatten der breiten Rampen empor, wobei es viel Gelächter gab und sich die meisten durch laute Zurufe unterhielten. Einige von ihnen blieben einen Augenblick stehen, als sie Phillips sahen; sie starrten ihn an und zeigten auf ihn. Daran war er gewöhnt. Er war um so viel größer als sie, es war offensichtlich, daß er nicht zu ihnen gehörte. Wenn sie auf ihn zeigten, lächelte er. Manchmal nickte er zur Bestätigung.
Auf der untersten Ebene konnte er nichts Interessantes entdecken. Es war eine massive quadratische Konstruktion von zweihundert Fuß Höhe, aus riesigen Marmorblöcken errichtet. Zwischen den kühlen, dumpfigen Arkaden lagen Hunderte von kleinen, dunklen Zimmern: die Büros der Leuchtturmwärter und der Mechaniker, die Unterkünfte der Garnison, die Ställe für die dreihundert Esel, die den Brennstoff zu dem Leuchtfeuer hinaufschleppten. Nichts von alledem schien ihm eine nähere Beachtung wert. Ohne anzuhalten arbeitete er sich weiter empor, bis er auf dem Balkon herauskam, der den Übergang zur nächsten Ebene bildete. Hier wurde der Leuchtturm schmaler und achteckig; seine Außenseite, jetzt aus Granit und fein kanneliert, stieg in atemberaubender Krümmung über ihm empor.
Gioia erwartete ihn hier. »Das ist für dich«, sagte sie und reichte ihm ein Stück Fleisch auf einem hölzernen Spieß. »Gebratenes Lamm. Schmeckt wunderbar. Ich hatte schon ein Stück, während ich auf dich gewartet habe.« Sie gab ihm auch ein Glas mit kaltem, grünem Sorbett, und dann rannte sie davon, um einen Granatapfel zu erstehen. Dutzende von Temporären trieben
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