Anderer Welten Kind (German Edition)
„vielleicht, weil ich wegen des Krampfes nicht mitlachen konnte.“
Er wusste genau, was der Blick bedeutet hatte. Es war wie eine Kriegserklärung gewesen. Henze hatte ihn durchschaut, hatte die Kritik an seinem Witz gespürt, hatte sofort verstanden, dass Christians Ausscheren aus dem Selbstverständnis, Perversen-Witze zu reißen, etwas Neues war, was er selbst noch nicht genau fassen konnte. Henze fühlte sich angegriffen, seine Autorität in Frage gestellt. Das war unerwartet für ihn, passte nicht in sein Weltbild, war er nicht gewöhnt.
Christian waren das Gemälde der drei Nackten in den Sinn geschossen, Wullenwever vor dem Kino, Ricky, wie er ironisch lachend ihm den Arm tätschelte, und in einer diffusen Auflehnung hatte er sich Henze verweigert, eine schnelle Abfolge assoziativer Bilder, denen die Klammer oder der Oberbegriff fehlten, die aber offensichtlich in seinem Inneren zusammengehörten. Er hätte es nicht erklären können, aber er hatte instinktiv begriffen, dass er sich in gefährlichem Fahrwasser bewegte, dass er auf der Hut sein musste. Henzes Blick hatte ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben: „Wenn du Scheiß machst, krieg ich dich. Mir machst du nichts vor.“
Ihm dämmerte langsam, dass seine Abneigung, sich jemandem über seine Erlebnisse der letzten Tage mitteilen zu wollen, nicht nur aus dem Wunsch gespeist war, etwas für sich allein zu haben, sondern auch in der Unmöglichkeit begründet war, von Dülmen einzuordnen, ihn in eine logische Verbindung zu seinem bisherigen Leben zu bringen. Seine Erfahrungen reichten nicht aus. Helgas Reaktion auf von Dülmen war ein Vorgeschmack dessen, was auf ihn zukäme, wenn er sich mit ihm sehen ließe. Es würden Fragen über diesen Paradiesvogel, denn das war er für Christian, gestellt werden, auf die er keine Antwort wusste.
Als er zu Hause ankam, spürte er immer noch Henzes Blick auf seiner Haut brennen, dementsprechend einsilbig fiel sein Tagesbericht auf Ingeborgs Fragen aus. Fritz Lorenz’ Laune hatte sich nicht gebessert; sie hatten in der Firma die Androhung wahr gemacht und Kollege Sievering hatte schon in Brandenbaum die neue Stelle angetreten. Daran kaute er sprichwörtlich, denn das Mahlen seines Kiefers, bei dem die Sehnen am Hals deutlich hervortraten, wurde zu einer ständigen Gewohnheit und begleitete alle Gespräche und selbst in den minutenlangen Schweigepausen, wenn er Zeitung las oder ins Leere stierte, pressten sich die Kinnladen aufeinander. Ingeborg blieb ausgeschlossen aus seinem Kummer, er erwähnte den Fortgang seines Kollegen nur ein einziges Mal, als Ingeborg sich nach ihm erkundigte. Danach verschwand er aus dem gesprochenen Repertoire.
Ingeborg, die einfühlsam genug war, ihren Mann nicht weiter mit dem Thema zu quälen, war besonders nett zu ihm, kochte sein Lieblingsessen, Königsberger Klopse mit extra viel Kapern, und nahm es hin, wenn Fritz Lorenz sich einen Mariacron genehmigte oder schon mit einer Kornfahne nach Hause kam. Der häusliche Frieden wurde gewahrt, ein sensibles Austarieren möglicher Reizungen ließ manches unbesprochen. Ein Zurückweichen vor dem letzten Wort und ein Verzicht auf konfliktbeladene Themen, daran hielten sich in stiller Übereinkunft alle, weil sie wussten, wie groß die Niederlage von Fritz Lorenz war, wie er gekämpft hatte für diese Arbeit, nächtelang gebüffelt bis zur Selbstaufgabe, sich und die anderen nicht geschont, Speditionsrecht und Verkehrsrecht und Beförderungsrecht und Zollrecht, Einfuhrbestimmungen, Ausfuhrbestimmungen, Lagerungssysteme und Gefahrguttransporte. Dafür bewunderten sie ihn und hinderten ihn nicht an seinem Rückzug in sich selbst, in dem nur er für sich die Verarbeitungs- und Verdrängungsstrategien entwerfen konnte.
„Lass Papa in Ruhe“, fuhr Ingeborg Renate an, als sie versuchte, ihren Vater in Gespräche über ihre Lehrstelle oder über die Verlobung mit Günter in einem Jahr oder die ehemalige Schulkameradin Erika – „Erika, Papa, die kennst du doch noch“ – zu verwickeln. „Siehst du nicht, dass Papa andere Sorgen hat?“
„Ist gut, Inge“, sagte Fritz, raffte sich aber nicht auf, mit seiner Tochter zu sprechen.
Das Abendessen verlief schweigend. Günter machte Überstunden nach den Schlechtwettertagen und war in dieser Woche nur selten bei Renate, die, ihres Bezugspunkts beraubt, ihre Erlebnisse in der Firma bei Ingeborg und Christian loszuwerden versuchte. Ingeborg hörte sich schweigend die kleinen Geschichten
Weitere Kostenlose Bücher