Anderer Welten Kind (German Edition)
sein. Sie hielten sich zurück angesichts der Entbehrungen, die ihre Kameraden erlitten hatten.
Ein unablässiger Bewegungsstrom führte die Menschen zueinander und voneinander weg, die Gespräche blieben fetzengleich, „Man sieht sich wieder“ oder „Nachher, wenn es ruhiger ist“, so viele andere waren noch zu finden. Ein Mann ohne Beine rammte seinen Rollstuhl durch die Menge, immer wieder rufend „Nun lasst mich doch mal vorbei!“ und sein Kopf drehte sich hin und her auf der Suche nach einer neuen Anlaufstelle. Ein Kriegsblinder mit einer gelben Binde mit drei schwarzen Punkten am Arm, von seiner Frau geführt und souffliert, tappte von Gruppe zu Gruppe und stellte immer nur die gleiche Frage „Habt ihr Hans Petersen von der 12. gesehen?“ und die Rempeleien, denen er ständig ausgesetzt war und nicht ausweichen konnte, nahm er ausdruckslos und unerschütterlich hin, während seine Frau die Rücksichtslosigkeiten mit bitterbösen Blicken bedachte.
Die beiden Jungen beobachteten das alles und Stefan, der mit der Verwundung seines Vaters aufgewachsen war, fiel gar nicht auf, wie viele Beinamputierte, leere baumelnde Jackettärmel, lederne Hände oder Narben quer über dem Gesicht oder der Stirn hier versammelt waren, während Christian staunend registrierte, wie es um ihn herum humpelte und schlurfte, wie linke Hände geschüttelt wurden und Armstümpfe aus den Manschetten der Hemden fuhren. Nur die jungen Männer, die Siegertypen, aus dem Fotoalbum bei sich zu Hause, die sah er hier nicht.
„Mensch, bist du groß geworden!“, wandte sich ein vielleicht fünfundvierzigjähriger Mann an ihn, der sich gerade zu ihnen gesellt hatte. „Und“, fragte er, sich an Fritz Lorenz wendend, „ist er ein guter Junge?“
Fritz Lorenz deutete ein Lächeln an und nickte. „Ja, Emil, ist er.“
Er stellte sich Christian und Stefan als Emil Schwärmer vor, ein alter Kamerad aus derselben Einheit. Sie schüttelten sich herzhaft die Hände und Schwärmer sagte zu Christian: „Dich hab ich schon als so kleinen Pimpf gekannt.“ Und er zeigte mit der Hand an, wie klein. Dann klopfte er ihm auf die Schulter.
„Mach was aus dir“, sagte er noch, um sich dann endgültig mit seinen beiden alten Kameraden zu unterhalten.
Schulterklopfen und „Mensch, bist du gewachsen“ hörten sie noch oft an diesem Nachmittag und sie fühlten sich nicht unwohl, Kinder ihrer Väter zu sein.
Stefan war abgelenkt und fasste einen Mann ins Auge, der abseits stand und sich keiner Gruppe zugehörig zu fühlen schien. Das war umso auffälliger, als alles um ihn herum in Bewegung war. Er stand nur da, ließ seinen Blick schweifen, niemand sprach ihn an, jeder nahm ihn aber aus den Augenwinkeln wahr und schaute schnell wieder weg, er wandte sich an niemanden. Er stand sozusagen auf verlorenem Posten, doch es schien ihm nichts auszumachen. Seine Miene verriet nichts. Seine Augen blickten fast gleichgültig und begünstigten die Leere um ihn herum. Die Arme hielt er angewinkelt und knetete unablässig seine Hände. Seine gesamte Erscheinung wirkte resigniert, die Spannung schien aus seinem Körper gewichen zu sein. Ab und zu murmelte er etwas vor sich hin, dann verzog er seine Mundwinkel, als wenn er angewidert wäre und gleich ausspucken müsste.
Stefan stieß seinen Vater an: „Kennst du den?“ Herbert Kremer schaute in die Richtung, die sein Sohn ihm mit dem Kinn wies, zögerte einen Moment und zog dann Stefans Ohr an seinen Mund. Stefan nickte ein-, zweimal, verstand etwas nicht, nickte dann wieder, schaute zu dem Mann hin und dann weg.
Zu Christian, der ihn fragte, was los sei, sagte er, auf den Mann zeigend: „Der war in Oradour dabei. Seitdem redet er nicht mehr, kommt aber zu jedem Treffen. Soll ein bisschen komisch geworden sein.“
Oradour-sur-Glane. Über sechshundert Zivilisten in der Kirche des kleinen französischen Ortes in der Nähe von Limoges eingesperrt und verbrannt. Darüber hatten sie im Geschichtsunterricht gehört, obwohl das Massaker nicht im Geschichtsbuch gestanden hatte. Nevers, der mit einer Französin verheiratet war und sie aus dem Krieg mitgebracht hatte, hatte es von ihr und an seine Schüler weitergegeben. Auf Nachfrage bei ihren Vätern hatten sie erfahren, dass die Waffen-SS auf ihrem Rückzug in einen Hinterhalt der Partisanen geraten sei. Da sei es eben passiert, hätten die anderen ja auch gemacht.
Christian und Stefan verließen das Zelt. Sie begannen, sich zu langweilen und zogen einen
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