Anderer Welten Kind (German Edition)
versäumen wollte. Nicht die Heidelandschaft hinter Bremen mit ihren Feldern und Knicken, nicht dort, wo es bei den Dammer Bergen schon hügelig wurde, nicht das Münsterland mit den tief heruntergezogenen Dächern der Bauernhäuser und, dann, als sie hinunterfuhren ins Ruhrgebiet, über das ein graufarbener Dunst wie eine Glocke hing und es aus Tausenden Schornsteinen rauchte und qualmte und die Feuer in den Stahlwerken rote Flammen in den nassen Himmel warfen. Christian und Stefan konnten sich nicht sattsehen. Immer wieder mussten sie die beschlagenen Scheiben mit dem Ärmel abwischen, aber das hatte sie nicht gestört. Die elektrifizierte Streckenführung der Eisenbahn hinter Köln hatte sie an eine Modelleisenbahn erinnert, die sie einmal im Schaufenster von Karstadt bewundert hatten. Das Siebengebirge und der Hunsrück waren Felsgetüme in Christians Augen und bei den ersten Weinbergen wähnte er sich in einem anderen, südlichen Land. Alles war mit fremden Augen gesehen und dieser erste Eindruck und die ersten Bilder prägten sich wie eine Blaupause ins Gedächtnis ein. Quartier fanden sie in Karlstadt in der kleinen Pension Haus Mainblick, die von einem Kameraden geführt wurde, nur einen Katzensprung von Karlburg entfernt, wo das Treffen stattfinden sollte.
Karlburg, mehr ein Marktflecken denn eine Stadt, historischer Kern, Fachwerkhäuser, knapp tausend Einwohner zählend, verträumt im Maintal von Weinbergen umgeben, mit einer wachen Kaufmannschaft, die in der HIAG-Zeitung in Inseraten ihre Produkte anbot, Kunde ist Kunde, quoll über, als sich dort die Kremers und Lorenz’ mit weiteren siebentausend ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS samt ihren Familien durch die Gassen wälzten und hinaus auf das Feld zogen, auf dem das grauweiße Bierzelt schon von Weitem in seiner überdimensionierten Riesenhaftigkeit die Größe der Veranstaltung unterstrich. Kalte, regennasse Nebel dräuten vom Main herüber. Die Menschen froren in ihren Ausgehanzügen und Kostümen und wischten sich den Regen mit großen Taschentüchern vom Gesicht und schlugen die Hüte aus, doch in ihren erwartungsfrohen Gesichtern zeigte sich keinerlei Unbill.
Herbert Kremer keuchte vor Anstrengung, schwer auf seinen Stock gestützt, und auf seinem Anzug unter seinen Achseln hatten sich große dunkle Flecken gebildet. Er roch scharf nach Schweiß. Sie drängten in das Zelt, in dem an Stellwänden Tausende von Fotos vermisster Soldaten der Waffen-SS angebracht waren. Die Versammlung war in der Presse als Suchdienst-Treffen angekündigt, doch die Blicke huschten über die Bilder und die Menschen waren schon nach zwei, drei Stellwänden erschöpft und ihre von der Anfahrt und den Strapazen müden Augen konnten die Gesichter der Männer auf den Bildern nicht mehr festhalten oder unterscheiden, zu ähnlich waren sie sich in ihren Anzügen und Uniformen, den glattrasierten Gesichtern und an den Seiten ausrasierten Haarschöpfen. Es waren die Fotos aus den Karteikästen der Einwohnermeldeämter, standardisierte Blicke in die Kamera und in ihrer Übereinstimmung frappierend. So bildeten sich nur kurze Schlangen und niemand drängelte.
Herbert Kremer befand sich in guter Gesellschaft. Ein ums andere Mal klopfte er sich auf das Holzbein und sagte nur „Charkow“ und nickte dabei, die Lippen ein wenig geschürzt. Seine wechselnden Gegenüber nickten ebenfalls und nicht weinige bezeichneten ihre versehrten oder fehlenden Glieder mit den Namen der Schlachtfelder, auf denen Teile von ihnen geblieben waren oder beschädigt wurden, als wenn die Benennung der Orte die Banalität der Verwundung überwände und zu mystifizieren hülfe. Bitterkeit oder gar Anklage lag nicht in diesem Austausch, eher spürten Stefan und Christian, die neben ihren Vätern standen, die Gewissheit, für eine gute Sache ein Opfer gebracht zu haben, und Stefan, der seinen Vater liebte, schaute nicht ohne Stolz auf ihn herab, der einen Kopf kleiner war als sein hochgeschossener Sohn.
Der Geräuschpegel im Bierzelt wuchs beträchtlich an. Rufe, lautes, hartes Gelächter und endlose Erinnerungsschleifen standen in der Luft, Anekdoten wechselten ihren Besitzer und offene Enden der abrupten Trennungen auf dem Rückzug oder bei der Flucht wurden wieder zu Seilschaften verknüpft. Kriegsgefangene schilderten ihre persönlichen Leidensgeschichten aus den Lagern und Minen Sibiriens, andere ahnten, welches Glück sie hatten, in amerikanische oder englische Kriegsgefangenschaft geraten zu
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