Anderer Welten Kind (German Edition)
von den Ungerechtigkeiten dieser Welt und insbesondere von Herrn Neurather, Renates Vorgesetztem in der Buchhaltungsabteilung, mit fast desinteressierter Miene an, so oft wiederholten sich die Klagen über die unsinnigen Anweisungen und umständlichen Erklärungen ihres Chefs.
„Fahren du und Stefan wieder mit zum Treffen?“, fragte Fritz Lorenz, gerade, als Christian aufstehen wollte, „wir müssen jetzt schon Quartier anmelden, stand in der Der Freiwillige. Diesmal geht es nach Lemgo in Nordrhein-Westfalen, da habt ihr schon Ferien.“
Eigentlich war das gar keine Frage, sondern eine in eine Frage gekleidete Selbstverständlichkeit. Deshalb schaute Fritz Lorenz ganz überrascht Christian an, als der zögerte. Nach einem kurzen Moment fuhr er dann fort, ohne die Antwort seines Sohnes abzuwarten. Er zog die Möglichkeit erst gar nicht in Betracht, Christian könnte eine eigene Meinung zu den gemeinsamen Treffen der ehemaligen Waffen-SS-Angehörigen haben, die nicht mit seiner übereinstimmte.
„Ich werde mal Willy Hübener ansprechen, ob er uns wieder mitnimmt.“
Willy Hübener, Kriegskamerad von Fritz Lorenz und Herbert Kremer und begeistertes Mitglied der Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS, HIAG genannt, hatte es bis zum Kassenwart der Nordmark gebracht und versäumte keine der Versammlungen. Auch er einer der Charkow-Überlebenden, der die Wiedereinnahme der Stadt unter dem Befehl von Generalfeldmarschall von Manstein vier Wochen nach dem Ausbruch von Hausser miterlebt und in der darauffolgenden Kesselschlacht im Wonnemonat Mai seinen linken Arm gelassen hatte. Er hatte sein Geld mit einem Kohlenhandel gemacht. „Hübener und Söhne“ stand schwarz auf weiß über der Kohlenhandlung am Marliring und seine Arbeiter schaufelten sommers wie winters Briketts, Koks und Eierkohle in die Keller.
Christian bewunderte ihn, wie er nur mit einem Arm seinen roten Borgward Isabella mit den Weißwandreifen sicher mit Hilfe einer kleinen Kugel am Lenkrad manövrierte und es zum Schalten losließ und die Lenkradschaltung geschmeidig ein- und ausrasten ließ, und es knackte niemals im Getriebe, wenn er die Kupplung zweimal durchtrat. Am meisten aber hatte Christian der hellbraune Lederhandschuh beeindruckt, den Willy Hübener dem Handschuhfach entnahm und sich von Stefan über die Hand ziehen ließ, bevor sie Richtung Karlburg gestartet waren, die beiden Mütter winkend hinter sich lassend. Er war ganz weich gewesen, der Handrücken war ausgespart und er wurde mit einem Druckknopf knapp über dem Handgelenk verschlossen. Er hatte ausgestanzte Löcher gehabt und die Finger waren mit einem hellen Faden, der wie eine Steppnaht aussah, umnäht. „Den anderen hab ich auch noch, ha, ha“, lachte Hübener, „die stammen aus Millau in Frankreich, halten lange, die Dinger.“
Dass seine Finger porentief mit Kohlenstaub behaftet waren, da konnte er schrubben, die Bürste unter den Armstummel geklemmt, so viel er wollte, störte Christian überhaupt nicht. Es waren schöne, schlanke Finger mit sauber manikürten Fingernägeln, von dunklen Handlinien durchzogen, und sie wirkten eher gebräunt als schmutzig.
Siebenhundert Kilometer im Borgward. Siebenhundert Kilometer im Regen. Die erste Hitzewelle Anfang Juli war längst vorüber und es hatte sich ein Regen- und Nieselwetter eingenistet, das sie die gesamte Strecke begleitete: die Autobahn 1 über Hamburg, Bremen, das Münsterland, das Ruhrgebiet, Köln, Frankfurt und dann in die Weinberge den Main hinunter bis nach Karlstadt. Übernachtung bei einem Kameraden in Duisburg, alle Mann außer Hübener in einem Zimmer auf Matratzen auf dem Boden. Die beiden Väter zogen sich im Dunkeln aus und nur die Geräusche der Prothese, das Herausziehen des Strumpfes, das Abstellen in eine Ecke und das Hüpfen auf einem Bein zur Matratze, begleitet von einem kleinen Stöhnen, als Herbert Kremer sich, das Knie gebeugt, fallen ließ, waren die einzige Begleitung des Bettgangs. Danach war Ruhe. Christian erinnerte sich später, dass der Stumpf säuerlich gerochen hatte.
Außer Travemünde, Hamburg – Hafenrundfahrt –, Timmendorfer Strand, Scharbeutz, Kiel – das Marinedenkmal in Laboe – und einmal Malente am Eutiner See hatte Christian nichts von der Welt gesehen. Die gesamte Fahrt im Borgward, auf der Kante der ledernen Rückbank sitzend und den Kopf gegen die Seitenscheibe gepresst, wurde zu einer Besichtigungs-Tour, bei der er nichts
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