Anemonen im Wind - Roman
Ton. »Aber das hier ist Melbourne, und hier regnet es oft, sogar im Sommer.«
»Genau wie zu Hause«, sagte die fünfjährige Betty wehmütig.
Alicia rückte den Samtkragen am Kamelhaarmantel des Mädchens zurecht und zog die weißen Strümpfe hoch, die es sich zur Gewohnheit gemacht hatten, auf die Lackschuhe hinabzurutschen. »Mal sehen, ob wir Mummy finden können«, sagte sie mit gezwungener Fröhlichkeit. »Sie ist wahrscheinlich irgendwo da unten zwischen all den vielen Leuten; also müssen wir uns aufmerksam umschauen.«
Betty war trotz ihrer jungen Jahre auf der ganzen Reise ein braves Kind gewesen, und auch wenn Alicia das ganze Unternehmen anstrengend fand, musste sie sich eingestehen, dass die Erfahrung, Betty vierundzwanzig Stunden täglich um sich zu haben, ihr vor Augen geführt hatte, wie viel ihr von Ellies Kindheit entgangen war. Nicht, dass sie Lust hatte, diese Erfahrung auszudehnen oder zu wiederholen. Sechs Wochen lang kreischende Kinder, beengte Quartiere und Seekrankheit erdulden zu müssen hatte genügt, um den letzten Rest mütterlicher Gefühle, die sie vielleicht einmal besessen hatte, zu bannen.
Sie hielt Bettys Hand, und zusammen spähten sie über die Reling auf den Kai hinunter. Es war seltsam, wie die Dinge sich mitunter fügten: Hätte Betty nicht die Masern bekommen, hätte Alicia nie die Chance gehabt, aus England zu entkommen.
Der erste Konvoi hatte Betty wegen ihrer ansteckenden Erkrankung zurückgelassen, und Harriet, ihre Mutter, hatte sich keinen Rat gewusst. Ihr Mann kämpfte in Europa, und sie hatte fünf Kinder zu versorgen. Angesichts der realen Invasionsgefahr hatten die Commonwealth-Länder angeboten, englischen Frauen und Kindern vorübergehend Zuflucht zu bieten, und sie hatte die Gelegenheit beim Schopf ergriffen. Dann war Bettykrank geworden, und Harriet hatte ihre alte Schulfreundin Alicia gebeten, sie auf einem der folgenden Konvois zu begleiten. Es war eine große Verantwortung gewesen, aber Alicia hatte die Möglichkeit gesehen, den Entbehrungen des Krieges zu entrinnen. Lieber wäre sie nach Kanada gegangen, aber sie hatte bereitwillig zugestimmt.
Eine Kreuzfahrt war es nicht gewesen, das stand fest; Alicia dachte an die markerschütternde Sirene in den grimmigen Nächten, als sie in pechschwarzer Finsternis aus ihren Betten stolpern und ihre Schwimmwesten hatten anziehen müssen. Dann hatten sie stundenlang auf dem eiskalten Deck gesessen, das unter ihnen gebebt hatte, während das Schiff, in gigantischem Wellengang kreuzend, versucht hatte, die jagenden U-Boote abzuschütteln. Trotz der Flottille der Marine, die sie auf der ganzen Reise eskortiert hatte, war die Anspannung ständig hoch und die Stimmung gereizt gewesen. Alicia hatte ihr Bestes getan, um gelassen zu bleiben, aber sie hatte auf der Reise nur wenig Privatsphäre genossen und mit Leuten verkehren müssen, mit denen sie sich sonst nicht abgegeben hätte.
Harriet schob sich durch das Gedränge, als Alicia und Betty endlich aus der riesigen Zollabfertigungshalle kamen, und zog das Kind in die Arme. »Gott sei Dank, ihr seid wohlauf!«, rief sie, und Tränen rollten über ihre gepuderten Wangen. »Ich hätte mir nie verziehen, wenn euch beiden etwas zugestoßen wäre.«
Alicia betastete ihr Haar und überprüfte ihr Aussehen in ihrem Taschenspiegel. Der Regen hatte ihre Haare kraus werden lassen, und ihr Lippenstift war verschmiert, aber sie sah doch nicht so heruntergekommen aus wie ihre alte Schulfreundin. Harriet hatte sich wirklich gehen lassen. »Wir können von Glück sagen, dass wir überhaupt hier angekommen sind«, sagte sie gleichmütig. »Wir waren zwei Tage von Liverpool weg, als ich dachte, ich sterbe an mal de mer .«
Harriet umklammerte Betty, und die anderen vier Kinderzerrten an ihrem Mantel. »Die vom folgenden Konvoi hatten nicht das Glück, nur seekrank zu werden«, schniefte sie.
»Was meinst du damit?« Alicia klang abwesend; sie steckte ihre Puderdose ein und hielt Ausschau nach einem Taxi. Sie freute sich auf ein heißes Bad und eine anständige Mahlzeit, und sie kannte das richtige Hotel dafür.
Harriet stellte Betty hin, und ihre Augen waren dunkel in ihrem bleichen Gesicht. »Du hast es nicht gehört?«
Alicia verlor die Geduld. »Was denn gehört? Spuck’s schon aus, Harriet, bevor wir alle in diesem verdammten Regen ertrinken.«
»Der Konvoi, der einen Monat nach euch ausgelaufen ist, wurde von einem U-Boot angegriffen. Eins der Schiffe ist gesunken. Niemand
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