Ange Pitou, Band 2
elf Uhr erwartet.
Es schlug Mitternacht.
Und er wartet noch?
Ja.
In welchem Zimmer ist er?
Man hat ihn in den Salon eintreten lassen.
Welchen Platz nimmt er in dem Salon ein?
Er steht an den Kamin angelehnt.
Und das Kistchen?
Auf einem Tisch vor ihm. Oh!
Was?
Beeilen wir uns, ihn herausgehen zu lassen. Herr von Charny, der erst morgen zurückkommen sollte, wird heute nacht kommen ... wegen der Ereignisse. Ich sehe es, er ist in Sevres ... Lassen Sie ihn weggehen, daß ihn der Graf nicht im Hause findet.
Eure Majestät hört es. Wo wohnt in Versailles Frau von Charny?
Wo wohnen Sie, Gräfin?
Auf dem Boulevard de la Reine, Sire.
Gut.
Sire, Eure Majestät hat es gehört, dieses Kistchen gehört mir. Befiehlt der König, daß es mir zurückgegeben werden soll?
Auf der Stelle, mein Herr.
Der König umstellte Frau von Charny mit einem Windschirm, damit man sie nicht sehen konnte, rief den Offizier vom Dienste und gab ihm leise einen Befehl.
Königliche Philosophie.
Diese seltsame Beschäftigung eines Königs, dem seine Unterthanen den Thron untergruben; diese Neugierde des Gelehrten, auf eine physische Erscheinung angewendet, während sich in ihrem ganzen Ernste die wichtigste politische Erscheinung entwickelt, die je in Frankreich stattgefunden hatte, nämlich die Verwandlung einer Monarchie in eine Demokratie, -- dieses Schauspiel, sagen wir, eines Königs, der sich unter den heftigsten Stürmen selbst vergaß, hätte sicherlich die großen Geister der Zeit, die seit drei Monaten über der Lösung ihres Problems brüteten, lächeln gemacht.
Während der Aufruhr außen tobte, vertiefte sich Ludwig, die furchtbaren Ereignisse des Tages, die Einnahme der Bastille, die Ermordung von Flesselles, de Launay und Losme, die Nationalversammlung, die sich gegen ihren König zu empören geneigt war, vergessend, -- in dieser völligen Privatbeobachtung, und die Enthüllung dieser unbekannten Szene nahm ihn ebensosehr in Anspruch, als die höchsten Interessen seiner Regierung.
Sobald er seinem Kapitän der Garden den erwähnten Befehl gegeben, kehrte er auch zu Gilbert zurück, der nun von der Gräfin den Ueberschuß des Fluidums, mit dem er sie beladen, entfernte, um ihr statt dieses konvulsivischen Somnambulismus einen ruhigen Schlaf zu geben.
Nach einem Augenblick war auch das Atmen der Gräfin ruhig und gleichmäßig, wie das eines Kindes. Mit einer einzigen Geberde der Hand öffnete ihr Gilbert die Augen wieder und versetzte sie in Ekstase.
Nun konnte man in ihrem ganzen Glänze die wunderbare Schönheit von Andree sehen. Völlig befreit von jeder irdischen Beimischung, floß das Blut, das einen Augenblick bis zu ihrem Gesicht emporgestiegen war und vorübergehend ihre Wangen gefärbt hatte, wieder in Herz zurück, dessen Schläge sofort ihren gemäßigten Lauf annahmen. Das Gesicht war bleich geworden, doch in jener schönen matten Blässe der Frauen des Orients. Die ein wenig über das gewöhnlicheMaß geöffneten Augen waren zum Himmel aufgeschlagen und ließen unten den Stern in der perlmutterartigen Weiße des Augapfels schwimmen; leicht erweitert, schien die Nase eine reinere Atmosphäre einzuatmen. Die Lippen, die ihre ganze frischrote Farbe beibehalten hatten, enthüllten, leicht geöffnet, eine Reihe von Perlen, deren lieblicher Glanz noch erhöht wurde durch ihre Feuchtigkeit.
Der Kopf war mit einer unaussprechlichen, beinahe engelhaften Anmut etwas zurückgeworfen.
Der König blieb wie geblendet; Gilbert wandte seufzend den Kopf ab; er hatte dem Wunsche, Andree diesen Grad übermenschlicher Schönheit zu geben, nicht widerstehen können. Er machte eine Bewegung, ohne nur den Kopf gegen Andree umzuwenden, und ihre Augen schlossen sich.
Der König wollte sich durch Gilbert diesen wunderbaren Zustand erklären lassen, bei dem sich die Seele vom Körper löst und frei, glücklich, über den menschlichen Erbärmlichkeiten schwebt.
Gilbert vermochte, wie alle wirklich erhabenen Menschen, das Wort auszuspechen, das der Mittelmäßigkeit so schwer fällt: Ich weiß es nicht. Er bekannte dem König seine Unwissenheit; er brachte eine Erscheinung hervor, die er nicht definieren konnte; die Thatsache bestand, die Erklärung der Thatsache fehlte.
Doktor, sagte der König bei diesem Bekenntnis Gilberts, das ist abermals eines von den Geheimnissen, das die Natur für die Gelehrten einer späteren Generation aufbewahrt, und das, wie so viele andre Mysterien, die man für unauflösbar hielt, ergründet
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