Angel 01 - Die Engel
ihre Tage gezählt seien, und damit meinten sie kleine Zahlen.
Dann waren da noch das Dach und die neue Schule, die man versprochen hatte, und viele, viele andere Kosten, sowohl laufende als auch einmalige.
Der Dekan hatte seine Position nicht nur dadurch erlangt, dass er ein guter Mensch war, obwohl er, wenn man nach den gängigen Standards ging, fest im Glauben stand. Aber er war außerdem ein guter Geschäftsmann, der wusste, wie man mit den Leuten umging und sie dazu brachte, ihn zu unterstützen, anstatt im Weg zu stehen. Deswegen war er heute auch kein Gemeindepriester mehr wie Vater Morgan, der zur selben Zeit die Weihen empfangen hatte wie er. Er konnte nichts für dieses Talent, und auch wenn er es im Dienste Christi einsetzte, hatte es den Nebeneffekt, dass es ihn auf der Karriereleiter nach oben trug. Es beunruhigte ihn und raubte ihm manchmal den Schlaf, dass seine Ziele sich so leicht hatten realisieren lassen. Er war der Ansicht, der Herr sollte es ihm schwerer machen, so dass der Erfolg schwierig, aber mit größerer Befriedigung zu erlangen war.
Der Dekan wanderte an der Kathedrale vorbei und war völlig in den dauernden inneren Kampf verstrickt, der ihn so vereinnahmte, dass er kaum mehr als vier Stunden Schlaf pro Nacht bekam. Zunächst bemerkte er den Mann nicht, der sich in den Schatten unter dem Stützpfeiler versteckte, doch dann erregte eine leichte Bewegung seine Aufmerksamkeit. Er blieb stehen und starrte in die Dunkelheit. Sein Puls beschleunigte sich.
» Wer ist da?«, rief er. » Wer ist da, mitten in der Nacht?«
Er fürchtete sich ein wenig davor, körperlichen Schaden zu nehmen, und war auch nicht der Ansicht, dass er sich für diese kleine Schwäche bei Gott entschuldigen müsste, falls es denn eine war. Viele Menschen scheuten Schmerzen: Man sollte sie schließlich auch nicht genießen. (Wenn man es tat, konnte das allein schon eine Sünde sein.) Und wenn man vor Schmerzen zurückscheute, gab es keinen Grund, warum man keine Angst vor ihnen haben sollte.
» Kommen Sie da raus!«
Ein großer Mann mit schmalem Gesicht trat aus den Schatten und sprach den Dekan leise an: » Ich bin Polizist. Wir haben Grund zu der Annahme, dass es hier nachts zu kriminellen Aktivitäten kommen könnte. Sind Sie der Bischof?«
» Der Dekan, aber ich verstehe nicht ganz.«
» Mein Partner und ich warten auf einen Brandstifter und Mörder, und es könnte zu Schwierigkeiten kommen. Es wäre besser, wenn sie nicht hierbleiben, Herr Dekan.«
Der Dekan konnte den anderen Mann jetzt auch sehen, er stand zwischen den Grabsteinen. Er trug etwas auf dem Rücken, das aussah wie diese Spritzapparate, mit denen man Insekten tötete. Manchmal sah man Gärtner in den städtischen Parks, die mit solchen Geräten die Büsche einsprühten …
Plötzlich schoss aus der Schnauze des Geräts eine dicke Feuerzunge über die Grabsteine hinweg. Sie beleuchtete die ganze Kathedrale. Stechender Benzingeruch hing in der Luft, der auf den Nasenschleimhäuten des Dekans brannte. Vor seinen Augen stieg schwarzer Rauch auf.
Der Dekan griff sich ins Gesicht, damit das Brennen aufhörte. Ihm rutschte das Herz in die Hose, und einen Moment lang konnte er nicht sprechen.
Dann stieß der Mann selbst einen Schrei aus.
» Er ist hier, Dave. Ich habe ihn mit dem ersten Stoß verpasst.«
Der Polizist hinter dem Dekan rief: » Wo ist er jetzt, Danny?«
» Er ist hintenrum gelaufen.«
Der Dekan war geschockt. Offensichtlich hatten sie es hier mit einem Verrückten zu tun. Aber warum benutzten sie diese seltsame Waffe? Eigentlich sollten sie doch Revolver oder so etwas einsetzen, höchstens vielleicht ein Gewehr, oder nicht? Warum das Feuer?
Der Dekan begann zu laufen, rannte stolpernd zwischen den Grabsteinen hindurch zu der Mauer, die den Friedhof umgab. Sobald er sie erreicht hatte, kauerte er sich hin und versteckte sich so hinter dem Wald aus Grabmalen. Jeder wollte im Friedhof der Kathedrale beerdigt werden, und sie packten sie in die Erde wie Karotten in eine Dose. Es gab Kreuze, Steine, Engel und Obelisken und kaum einen Meter Abstand zwischen ihnen. Die Toten würden ihn beschützen, ihn verbergen, da er auf sie achtgegeben und sich um ihre Überreste gekümmert hatte.
Der Dekan hatte große Angst. Tief in sich konnte er spüren: Da draußen war etwas Furchtbares unterwegs, und es bewegte sich auf dem heiligen Grund seiner Kathedrale. Der Dekan war ein sehr spiritueller Mensch und in dieser Hinsicht wesentlich sensibler
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