Angel 01 - Die Engel
einfangen zu haben.
Heutzutage hatte die Schlaflosigkeit weniger dramatische Gründe.
Man hatte ihm gesagt, dass die Kathedrale an der nordöstlichen Ecke langsam absackte, und dass es eine Menge Geld kosten würde, sie abzustützen. Die Wohnräume des Dekans befanden sich in einem großen Sandsteinhaus, das sich ganz nah bei der Kathedrale befand. Regelmäßig ging er mitten in der Nacht zur Kathedrale und starrte auf den Punkt der Ecke, wo die Steine auf die Erde trafen, um zu sehen, ob er eine Bewegung entdeckte.
Für ihn sah immer alles gut aus, beständig wie ein Berg, aber sie behaupteten, das Gebäude würde absinken. Er hatte die Steine kurz über dem Boden mit einem wischfesten Stift markiert. Der Abstand zwischen der Markierung und dem Boden schien nicht kleiner zu werden. Er sah immer gleich aus. Er hatte schon gedacht, dass Gott vielleicht seine Gebete erhört hatte. Doch als die Experten vor einer Woche wiedergekommen waren, hatten sie ihm gesagt, dass das Gebäude immer noch absank. Eine Bewegung, die nur die Experten ausmachen konnten. Als er ihnen von seiner Markierung erzählt hatte, hatten sie ihn nur angesehen, aber diese Blicke waren vielsagend gewesen: Mischen Sie sich nicht in Dinge ein, die Sie nicht verstehen.
Er wollte ihnen sagen: Das Mysterium der Schöpfung, die Rätselhaftigkeit des Todes und die Wege des Herrn verstehe ich auch nicht, soll ich deshalb aufhören, mich damit auseinanderzusetzen?
Sie erklärten ihm geduldig, dass die nächste Bewegung plötzlich erfolgen könne, oder sehr langsam, dass jegliche Erdbewegungen unvorhersehbar seien. Sie sagten, solche Dinge seien immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftet. Sicher sei jedoch, dass die Kathedrale kippe, und auch wenn Gebete sicher nicht schaden könnten, sei es doch das Beste, mit Beton und Stahl auf Nummer sicher zu gehen.
Priester, die zu Besuch kamen, meinten, er solle sich keine Sorgen machen. Die Kathedrale stünde doch jetzt schon seit hundert Jahren, oder etwa nicht? Warum sollte sie also nicht noch tausend Jahre stehen? Oder zehntausend? Man müsse sich doch nur mal den Schiefen Turm von Pisa ansehen! Der stand doch immer noch, nach wie langer Zeit jetzt? Achthundert, neunhundert Jahre? Und sie kannten noch ein anderes Monument, oder zumindest hatten sie davon gehört, irgendwo in Asien oder Südamerika oder im pazifischen Raum, jedenfalls sei dessen Untergang schon vor Jahrhunderten prophezeit worden, und trotzdem habe es alle Experten überdauert.
Die Experten bezweifelten natürlich, dass religiöser Glaube stark genug sein könnte, um Tausende Tonnen von Granit zu stützen. Sie setzten ihren Glauben lieber in Stahlträger. Sie verstanden nicht, dass der Dekan der Meinung war, sein Glaube sei stärker als Stahl. Gott hatte Erde und Stein überhaupt erst geschaffen; danach konnte er damit tun, was ihm gefiel. Wenn Gott beschloss, die Kathedrale mit seiner Faust in den Boden zu rammen, würde er es tun. Doch falls er bereit sein sollte, die Gebete des Dekans zu erhören, würde das Gebäude bis in alle Ewigkeit stabil bleiben. Was waren schon ein paar tausend Tonnen, wo er doch Milliarden Tonnen in einem Vakuum schweben ließ, dafür sorgte, dass sie sich im Raum drehten, und erlaubte, dass darauf das Leben erblühte? Er hatte den Planeten erschaffen, der sich im Nichts drehte und in einem exakten Winkel geneigt war, und das ohne durch irgendetwas im Gleichgewicht gehalten zu werden. Er hatte unzählige solcher Welten erschaffen: ein ganzes, endloses Universum voller Welten.
Die Experten hätten sich die Argumentation des Dekans geduldig und voller Toleranz angehört, ihr sanft zugestimmt und dann darauf erwidert: Ja, Herr Dekan, schon, aber wir haben es hier mit einer großen Schwachstelle zu tun … wir sind hier in San Francisco. Das ist Erdbebengebiet. Selbst ein kleines Beben … Anscheinend verlief unter dieser Ecke ein tiefer unterirdischer Strom, der nach und nach die Fundamente abgetragen hatte, seit die Kathedrale 1883 erbaut worden war. Sie konnte noch ein Jahr stehen, noch zehn, vielleicht sogar noch hundert oder fünfhundert, ohne einzustürzen. In der Geologie war Zeit relativ. Vielleicht würde der San-Andreas-Graben auch erst in tausend Jahren wieder aktiv werden.
Aber das hier war eine Kathedrale. Sie sollte für immer an ihrem Platz stehen. Sie hatte das Beben von 1906 überstanden und seitdem noch einige andere, aber aufgrund des Stroms und der Erdbewegungen glaubten die Experten, dass
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