Angel 01 - Die Engel
wurde, hing eine Landkarte von Nigeria. Abby war nie in Nigeria gewesen. Genauso wenig wie die Person, die die Karte gezeichnet hatte; die Signatur lautete: Petra, dreizehn Jahre. Für diese beiden Menschen war Nigeria ein geheimnisvolles, mythisches Land: die Heimat ihrer Großeltern. Sie kannten viele Geschichten darüber, von mystischen Tieren, die miteinander und mit den Menschen sprachen, von mutigen Stämmen, vom Krieg, von verlorenen, goldenen Königreichen. Sie waren beide vom Land ihrer Vorfahren fasziniert gewesen und hatten sich geschworen, es eines Tages zu besuchen, sobald sie genug Geld und Zeit dafür hätten.
Petra beobachtete liebevoll ihren kleinen Bruder und wünschte sich, sie könnte einfach durch die Scheibe brechen, die sie trennte, und ihn in den Arm nehmen. Aber sie wollte ihn nicht beunruhigen: Er hielt sie für tot. Sie hatte ihren Eltern gesagt, sie wolle nach Nigeria gehen und nach ihren Wurzeln suchen, bevor die Krankheit sie völlig beherrschte, und später hatten sie eine Nachricht erhalten, dass sie unterwegs gestorben sei. Sie waren zu arm, um den Leichnam nach England überführen zu lassen, und so hatten sie akzeptiert, dass sie nicht mehr da war, und hatten auf dem örtlichen Friedhof zu ihrem Gedenken einen Baum gepflanzt.
Plötzlich öffnete sich die Wohnzimmertür und eine korpulente Frau kam herein. Sie trug einige Einkaufstüten. Ihre Mutter hatte sich kaum verändert, seit Petra sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie war eine der Frauen, die schon bei der Geburt aussahen wie vierzig und dann so blieben, auch wenn sie schließlich die Fünfziger erreichten.
» Bist du fleißig, Abby?«, hörte Petra ihre Mutter fragen.
» Natürlich«, erwiderte Abby leicht gereizt. » Im Dunkeln kann ich schließlich nicht Fußball spielen, oder?«
» Du solltest besser an deine Schulaufgaben denken«, erwiderte seine Mutter und ging Richtung Küchentür.
Der Junge verdrehte die Augen, als hätte er Eltern, die nicht nur doof, sondern ein völlig hoffnungsloser Fall waren.
Lächelnd erinnerte sich Petra an die Zeit, als sie an genau diesem Tisch gesessen und sich gewünscht hatte, rausgehen und mit den anderen Mädchen spielen zu können. Damals hatte sie ihre Eltern für grausam gehalten, weil sie sie dazu zwangen zu arbeiten, während andere ihren Kindern alle Freiheiten ließen. Später hatte sie diese Meinung natürlich revidiert. Als sie ihren ersten Job als Topmodel bekommen hatte, waren sie so stolz auf sie gewesen. Petra hatte ihre Mutter zu einem Einkaufsbummel nach Paris eingeladen, und wenn sie sich heute daran erinnerte, wie nahe sie sich damals gewesen waren, kamen ihr die Tränen.
Ein Mann in Arbeitskleidung kam ins Wohnzimmer. Er war groß, blickte ernst drein und hatte eine Narbe auf der linken Wange.
» Bist du fleißig, Abby?«, fragte auch der Mann, während er seine Zeitung zusammenfaltete und sie sich unter den Arm klemmte.
Wieder rollte der leidgeplagte Abby mit den Augen und stöhnte. Er machte sich nicht einmal die Mühe zu antworten, sondern beugte sich wieder über seine Bücher.
Petra hatte plötzlich einen dicken Kloß im Hals. Wie ihr Daddy in der Nacht geweint hatte, als sie gestorben war! Er hatte herzzerreißend geschluchzt. Dieser Mann, der so hart und unverwüstlich wirkte wie ein Stück Stahlschiene, war in den Armen ihrer Mutter zusammengebrochen und hatte ihr Kleid mit seinen Tränen durchnässt. Jetzt wirkte er ausgelaugt, und er schlurfte ein wenig in seinen Hausschuhen. Petra kannte dieses Schlurfen von ihrem Großvater, als er die ersten Symptome von Parkinson gezeigt hatte.
Ihre Mutter kam zurück ins Wohnzimmer.
Petra blieb noch lange so hocken, beobachtete und genoss den Anblick ihrer Familie. Sie waren immer noch ein glücklicher Haufen – soweit das bei Familien möglich war – und wurden von aufrichtiger Liebe und Zuneigung zusammengehalten. Ihr Daddy hatte einmal eine nigerianische Münze in vier Teile schneiden lassen. Ein Viertel dieser Münze hing immer noch an einer Kette um Petras Hals. Als sie mit dem Verdacht auf Herzstillstand ins Krankenhaus eingeliefert worden war, hatten die Ärzte sie abschneiden wollen, aber sie hatte sie angeschrien, dass die Münze dranbleiben müsse. Jetzt konnte sie ein anderes Viertel dieser Münze sehen, das vom Hals ihres Bruders hing und über den Büchern schwebte.
So gerne wäre sie hineingegangen und hätte sie alle in den Arm genommen, aber Petra war nicht mehr Petra, zumindest nicht
Weitere Kostenlose Bücher