Angel Eyes. Zwischen Himmel und Hölle (German Edition)
«Darf ich mich zu dir setzen?»
Ich wedele mit den Briefen. «Tut mir leid, aber ich bin beschäftigt.»
Ich bete, dass er verschwindet. Aber nein, er lässt sich an der Mauer zu Boden gleiten und setzt sich neben mich. «Was hast du da?»
«Briefe.» Ich suche den meines Freundes Ghalib hervor und lege ihn zuoberst.
Übersetzt sind die Briefe noch nicht, doch während ich auf die Zeilen starre, zuckt ein Blitz durch mein Gehirn, und mir wird übel.
O nein, lieber Gott, bitte nicht.
Doch ich kenne das Gefühl und weiß, dass es etwas Schlimmes bedeutet. Plötzlich bin ich froh, dass ich heute Mittag nichts gegessen habe, denn mein Magen rebelliert. Würgend beuge ich mich vor und stütze mich auf den Händen auf.
«Frannie!» Luc beugt sich zu mir und legt mir eine Hand auf den Rücken. «Was hast du?»
«Nichts», keuche ich und versuche, das Bild zu verdrängen, in dem Ghalib blutend auf einem staubigen Feldweg liegt. Er ist tot, und mir ist, als würde ich ersticken.
«Frannie! Was ist denn? Bist du krank?»
Wie soll ich es Luc erklären, ohne wie eine Irre zu klingen? Unsicher schaue ich ihn an und höre eine kleine Stimme in meinem Ohr, die mir verspricht, dass er mich verstehen wird. Dass er der Einzige ist, der nicht denken wird, ich wäre verrückt. «Ich glaube, Ghalib ist –» Aber ich schaffe es nicht, den Satz zu beenden. «Ach, nichts.» Doch der Schmerz in meiner Brust ist so groß, dass ich weinen möchte.
Luc nimmt den Brief und überfliegt ihn. «Es geht ihm gut, Frannie. Er ist auf dem Weg nach Afghanistan, um Verwandte zu besuchen und sich nach einem Job umzusehen. Alles ist in bester Ordnung.»
Woher er das ohne Übersetzung wissen will, ist mir zwar ein Rätsel, doch mir fehlt die Kraft, ihn danach zu fragen. «Er ist tot.»
«Und woher willst du das wissen?»
«Ich habe ihn gesehen.»
Luc stutzt. Dann sieht er mich dermaßen sprachlos an, dass ich weiß, er hat es nicht verstanden. Luc hält mich doch für verrückt. Behutsam legt er mir einen Arm um die Taille. «Komm, ich bringe dich zur Krankenschwester.»
«Nein!» Ich stoße ihn fort und lege mich flach auf den Rasen. Mir ist immer noch übel. Es wird nicht einfach aufhören. Ich werde weiter diese Bilder sehen. Mit Matt fing es an, doch seitdem ist es schon oft passiert. Immer bin ich die Erste, die weiß, wann ein Freund unserer Familie oder ein alter Lehrer und sonst jemand, den ich gekannt habe, gestorben ist. Es sind ihre Gesichter, die ich sehe. Und immer sind sie tot.
Zu guter Letzt raffe ich mich auf. Luc begleitet mich in ein leeres Klassenzimmer. Dort schreibe ich einen Brief an Ghalib, auch wenn ich weiß, dass es zwecklos ist. Ich bringe meinen Brief zu Mr. Synder, er verspricht, ihn noch heute übersetzen zu lassen und dann gleich loszuschicken.
Für den Rest des Tages weicht Luc nicht von meiner Seite. Normalerweise würde mich solche Fürsorglichkeit stören, aber irgendwie tröstet es mich tatsächlich, dass er bei mir ist. Als ich nach der Schule in seinen Wagen steige, geht es mir langsam ein wenig besser.
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Kapitel 11 Vom Teufel verführt
Luc
Ich bin wie elektrisiert. Was habe ich mir den Kopf zerbrochen. Und jetzt endlich weiß ich, weshalb die Hölle so scharf auf Frannie ist. Sie ist eine Seherin .
Frannie lässt sich auf dem Beifahrersitz nieder, lehnt den Kopf ans Fenster und schließt die Augen. Für den Großteil der Fahrt lasse ich sie zufrieden, doch dann halte ich es nicht mehr aus. Ich muss es einfach wissen.
«Frannie?»
«Ja?»
«Das da vorhin auf dem Schulhof – das Bild, das du gesehen hast –, passiert dir so was öfter?»
Ihr Gesicht wird abweisend. «Ich bin nicht verrückt, falls du das denkst.»
«Das wollte ich damit auch nicht sagen. Ich mache mir nur Sorgen.» Und platze fast vor Neugier.
Frannie schaut aus dem Fenster. «Nicht oft, aber manchmal.»
«Und seit wann?»
«Seitdem – seit ich sieben war.»
«Und was genau siehst du? Dinge, die noch geschehen werden?»
Frannie dreht sich zu mir um. In ihren Augen stehen Tränen. «Ich sehe Tote. Ich weiß, dass sie sterben werden, kurz bevor es passiert.» Sie blinzelt die Tränen fort. «Und ich kann nichts mehr daran ändern.»
Mir ist natürlich sofort klar, worin der Nutzen für die Unterwelt besteht. Denn wenn wir wüssten, wer kurz davor ist zu sterben, könnten wir sie noch schnell markieren. Das würde unsere Quote deutlich verbessern.
«Das ist hart», sage ich. «Kein Wunder,
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