Angela Merkel – Die Zauder-Künstlerin (German Edition)
Herbst 2013 verliert, wird sie in jenen sechs Monaten Machtvergessenheit nach der Ursache suchen müssen. Während dieser Zeit verfügte die schwarz-gelbe Koalition über eine Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat. Schon dass zwei Parteien allein eine regierungsfähige Mehrheit zusammenbringen, war eine Überraschung, aber dann auch noch eine Mehrheit gleichfarbiger Bundesländer … Es wäre der Moment der Macht gewesen, man hätte es ja nicht wieder gleich »Durchregieren« nennen müssen. Aber Angela Merkel ließ ihn verstreichen, wollte nichts Wichtiges entscheiden, bevor nicht NRW ein weiteres Mal an die CDU gegangen sei. Falsch gedacht, Chance vertan, und was für eine Chance: für Reformen bei Steuern, Gesundheit, Arbeitsmarkt – für die ganze Agenda der Wahlprogramme, die einen Kontrapunkt zur immer weiter Raum greifenden Krisen-Politik hätten setzen können. Schwarz-Gelb 2009 bis 2013 wird vielleicht für kluges Eurokrisen-Management in die Geschichtsbücher kommen und für die Abschaffung der Wehrpflicht. Aber für nichts genuin Schwarz-Gelbes: »Wir haben es damals vergeigt«, sagt bis heute einer der wichtigsten und treuesten Merkel-Minister. Erst habe man den Koalitionsvertrag viel zu hastig und darum voller Widersprüche »zusammengenagelt« – und dann habe man sich aus unterschiedlichen Motiven bis zum Mai des darauffolgenden Jahres in ein Schneckenhaus zurückgezogen. Selber schuld. Das bis heute schlechte Image von Schwarz-Gelb, in dieser Phase wurde es begründet.
Ich denke zugleich, dass der Vorwurf der Machtvergessenheit auf die Zeit der großen Koalition nicht zutrifft – obwohl er mit größter Wucht immer wieder vorgebracht wird. Die Reihe der wie entfesselt Attackierenden ist lang und bunt. Ein Wirtschaftsliberaler wie Gabor Steingart ist darunter, vormals Büroleiter des Spiegels in Berlin. Cora Stephan zählt dazu, die rigoros freiheitlich denkende Intellektuelle, ein tief enttäuschter einstiger Merkel-Fan. Und zuletzt reihte sich als bislang schrillste Kritikerin Gertrud Höhler ein. In ihrem Buch breitet sie auf mehreren Hundert Seiten weitgehend ein und denselben, fast hasserfüllten Vorwurf aus: Es sei ihr ganz egal, wie das Land regiert werde, solange nur sie es regiere. Damit zerstöre sie die Demokratie. Na ja. Die meisten anderen Kritiker reiben sich vorwiegend daran, wie weit Angela Merkels Regierungshandeln ab 2005 von ihren politischen Positionen, etwa aus dem Jahr 2003, entfernt läge. Wohl wahr, da klafft ein Graben. Aber es ist einfach lächerlich zu glauben, eine CDU -Kanzlerin könne » CDU pur« liefern, wenn der Vize-Kanzler bei der SPD ist. Dass in einer großen Koalition ein weiter Abstand zwischen Wahl-Wünschen und Regierungs-Alltag entsteht – wen soll das überraschen?
In seinem Buch »Die Machtfrage« schreibt Gabor Steingart, die Beinahe-Wahlniederlage Merkels 2005 sei der Moment gewesen, in dem sie den Respekt vor der »Wahrheit« verloren habe, vor der objektiven Wahrheit, versteht sich. Wirklich? Oder hat Angela Merkel nur erkannt, dass es in der Demokratie fast nichts gibt, wenn nicht eine Mehrheit der Bevölkerung auf Sicht davon irgendwie zu überzeugen ist? Dass man nicht Kanzlerin der Deutschen sein kann, wenn man täglich an ihnen und ihrer vermeintlichen Reform-Feigheit verzweifeln möchte? Man kann mit guten Gründen die Politik der großen Koalition für rundum unzureichend halten. Aber man kann sie nicht im Ernst auf charakterliche Defizite der Regierungschefin zurückführen.
Gerhard Schröder und Joschka Fischer, die SPD und die Grünen, haben während ihrer Regierungszeit gelernt, dass die Wirklichkeit bisweilen stärker ist als der Wille einer Partei. Rot-Grün wollte weder große Sozialstaats-Reformen noch bewaffnete Bundeswehr-Einsätze verantworten. Aber es ließ sich irgendwann nicht mehr vermeiden. Angela Merkel und die CDU haben am Wahlabend 2005 dagegen gelernt, dass der Wählerwille bisweilen stärker ist als der kollektive Wille einer Partei, stärker sogar als ihre ehrlich empfundene Euphorie. Mehr noch: Es gibt diese »objektive Wahrheit« in der Politik nicht, genauso wenig wie es ein fertig formuliertes »Gemeinwohl« einer Gesellschaft gibt. Es gibt nur den Kampf der widerstreitenden Auffassungen, was in Wahrheit das Beste fürs Land, was das Gemeinwohl denn sei: Mehr Steuern oder weniger? Lockerer Kündigungsschutz oder Mindestlohn? Gentechnik oder Ökolandbau? Hartz IV rauf oder runter? »Gemeinwohl« ist genau das, wovon
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