Angela Merkel – Die Zauder-Künstlerin (German Edition)
Freiheit, ohne die alles nichts sei. Und auch die mitgereisten Deutschen nahmen ihr, der hinter einer Mauer Aufgewachsenen, den tiefen Glauben an die Freiheit und nichts als die Freiheit ab. Man nahm ihr ab, dass wer in der DDR leben musste und die Mauer hat fallen sehen, nichts mehr für menschen-unmöglich hält, keine individuelle Grenze für unüberwindbar. »Ja, alles ist möglich«, sagte Merkel da. »Auch, dass eine Frau wie ich heute hier ist.« Liberale Kritiker werfen Angela Merkel zu Recht vor, dass man diese Freude an der Freiheit in ihrer praktischen Politik an keiner Stelle wiederfindet. Trotzdem gehört sie unlösbar zum Wesen der Kanzlerin. »Das ist es, was mich an Angela Merkel so tief beeindruckt«, hat US-Präsident George W. Bush einmal über sie gesagt, der vielleicht nicht viel von Akten, aber eine Menge von Menschen verstand. Und vielleicht muss man tatsächlich Amerikaner sein, um das zu erkennen.
Lange Rede, kurzer Sinn: Etliche der genannten Punkte können nicht innerer Wertekern der Kanzlerin sein, weil sie in Wahrheit unter wechselnden Vorbehalten stehen. Andere Punkte sind zwar kristallklar, im Einzelnen jedoch zu klein oder zu abstrakt, als dass sie zum politischen Kern und Überzeugungs-Kompass taugten.
Es bleibt also eine Lücke.
Was aber füllt diese Lücke? Gar nichts, also ein Vakuum? Das werfen ihr Opposition und in der Wolle gefärbte Konservative und Wirtschaftsliberale aus den eigenen Reihen vor. Oder ist es eine kommunistisch geschulte Verschlagenheit und Verstellungskunst? Das raunen verzweifelte Verschwörungs-Theoretiker, die immer noch auf der Suche nach Angela Merkels Führungsoffizier beim KGB sind.
Ich meine: Angela Merkels innerer Überzeugungskern, ihr Korsett und ihr Kompass, das sind – Fragen. Das klingt paradox, für einen Spitzenpolitiker zumal. Denn in der Demokratie sind ja eigentlich die Bürger zuständig für die Fragen und die Politiker für die Antworten. Doch Angela Merkel, ganz wertfrei, ist keine »eigentliche« Politikerin. Sie nimmt sich gegenüber der eigenen Partei, deren Milieu und Wählern diese Freiheit: Bei ihr bleiben die Fragen, und die Antworten ändern sich. Bei der Mehrzahl der Politiker ist es anders herum.
Welche Fragen sind das? Ihre wichtigste, die für das politische Alltagsgeschäft, lautet: Kann ich, was ich ankündige, am Ende auch liefern?
Dahinter steht die feste Überzeugung, dass Regierungspolitiker sich mit konkreten Ideen, Plänen und Positionen im Rahmen des Machbaren zu bewegen haben, weil es die Bürger so wollten. Die Oppositionsparteien dürfen sich demnach anders verhalten und Forderungen aufstellen, was das Zeug hält. Nicht aber Regierungsparteien. Wer weiß, dass er für einen bestimmten Plan keine Mehrheiten bekommt, weder in den Parlamenten noch auf absehbare Zeit bei der Bevölkerung, der soll die Finger von diesem Plan lassen, wenn er an der Regierung ist. »Es zählt, was hinten rauskommt«, hat Helmut Kohl einmal gesagt. Und in diesem Punkt ist Angela Merkel ganz bei ihm. Brutalen Spott hat sie selbst für internationale Polit-Größen, wenn sie an diesem Maßstab scheitern.
Ein Beispiel: Über den umweltbewegten, Nobelpreis-geehrten Ex-US-Vizepräsidenten Al Gore sagte sie einmal: »Al Gore hat einen Nobelpreis dafür bekommen, dass er keinen einzigen US-Senator von der Ratifizierung des Kyoto-Protokolls überzeugt hat …« Tatsächlich hängt Merkel an diesem Umwelt-/Klima-Protokoll und erzählt immer wieder Anekdoten von den Verhandlungen darüber, denn als Umweltministerin hat sie hier ihre ersten internationalen Meriten erworben und Narben davongetragen. Der damaligen US-Regierung Clinton/Gore hat sie auch deshalb nicht vergessen, dass sie das Abkommen zwar unterzeichnete, aber an der Ratifizierung scheiterte – im Senat gar ohne eine einzige Ja-Stimme. Merkel verachtet derartige Schwäche.
Das hindert empörte Kritiker nicht, der Kanzlerin »Relativismus« oder die Attitüde eines Gemischtwarenladens vorzuwerfen, wo der Kunde über den Marktwert des Angebots entscheidet und Angebote aussortiert werden, wenn sie keiner haben will. Das ist oftmals hübsch bissig formuliert, aber es bleibt die Frage, was aus einem Gemischtwarenladen wird, dem die Kundengunst gleichgültig ist – und der heute unverdrossen Handys aus den 90ern und weiße Polyesterhemden aus den 70ern anbieten würde.
In einem deutlichen Gegensatz zu dem kleinen Karo fürs Tägliche steht der weite Horizont, den jene Fragen
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