Angela Merkel – Die Zauder-Künstlerin (German Edition)
zeichnen, die Angela Merkels strategischen Kompass bilden. »Wir sind ein Land von 80 Millionen, davon gibt es viele. Was bedeutet das für Deutschland?«, lautet eine. »Was, wenn die Nicht-Demokratie China seinen Bürgern mehr Wohlstand bieten kann als eine Demokratie?«, lautet eine andere. Gerade in der Euro-Krise wurden ihr solche Fragen mit Wucht gestellt, Systemfragen. Die Europäer seien das größte Problem der Welt, erklärt ihr regelmäßig etwa die chinesische Führung in Peking, sechs Mal in ihrer Amtszeit war sie dort. Begründung: Das europäische Polit-System, die parlamentarische Demokratie, produziere nachweislich falsche Entscheidungen, zum Beispiel mehr Geld auszugeben, als man einnehme. Was zu der Frage führt: »Sind Demokratien überhaupt im Stande, den Wohlstand der Mehrheit der Wähler zu reduzieren, weil er zu lang auf Pump finanziert war?« Oder kann in einer Demokratie nur der Schlag von Politiker überleben, der den Wählern Geschenke macht, notfalls eben auf Pump. Und eine letzte dieser Kompass-Fragen im Merkel-Kosmos: »Was, wenn die Finanzmärkte schneller und stärker sind als frei gewählte Parlamente? Wer hat am Ende das Sagen?« Muss man sich im 21. Jahrhundert Demokratie finanziell leisten können – und was hieße das für den universellen Werte-Anspruch dieser Staatsform, die sich ja aus Freiheit und Würde des Einzelnen ableitet?
Man kann seit Ausbruch der kombinierten Banken-, Finanz- und Schuldenkrise mit der Kanzlerin keine 45 Minuten über aktuelle Politik reden, ohne dass sie darauf zu sprechen kommt. Der Kern der Finanz-Schmelze, aus der sich alles Ungemach katastrophenschnell entwickelte, sei die »destruktive Wucht der Märkte gegen das gesellschaftliche Wohl«, hat Angela Merkel zur Mitte ihrer zweiten Amtszeit einmal gesagt. »Die Märkte verfolgen kein gesellschaftliches Leitbild.« So klingt es, wenn sie pessimistisch ist. Wenn sie besser gelaunt ist, heißt derselbe Satz so: »Nur um einer schnellen Entscheidung willen, werden wir die Prinzipien der Demokratie nicht aufgeben. Manchmal dauert es dann einen Tag länger, aber dafür nehmen wir die Menschen mit.«
In der Außenpolitik des 20. Jahrhunderts nannte man dieses Kaliber von Fragen und Themen »grand design«. Damals ging es um Geostrategie, um Rohstoffe, Handelswege oder den direkten Zugang zum Meer. Heute ist es das globale Spiel um die Macht, zu sein, wie man will. Es ist das globale Spiel der Europäer um ihren European way of life ; der Kampf um Selbstbestimmung und die Möglichkeit zu bewahren, was man bewahren will. Oder in Zahlen: Was wird aus den Europäern, die ihr Sozialstaatsmodell gern behalten wollen, weil es Teil ihrer Identität ist? Die aber zur Kenntnis nehmen müssen, dass sie noch für sieben Prozent der Weltbevölkerung stehen, für ca. 25 Prozent der Welt-Wirtschaftsleistung – aber für sage und schreibe 50 Prozent aller Sozialleistungen rund um den Globus. Solche Fragen sind Angela Merkels Kompass, und etwas klassisch Bürgerlich-Konservatives steckt darin. Eine abschließende Antwort hat sie nicht zu bieten, nur die nimmermüde, neugierige Suche danach. Auf diesem Weg sind die Veränderungs-Etappen durchaus konkret, während das Ziel unerreicht im Nebel liegt.
So könnte es sein, dass Angela Merkel eine Menge für Deutschland und seine Zukunft in einer turbulenten Welt leistet – und doch einer zentralen Bringschuld von moderner Politik nicht nachkommt: Sich für zuständig zu halten, wenn es um jene Antworten für die Zukunft geht, die Politiker eigentlich noch gar nicht richtig geben können. Die trotzdem mutig zu skizzieren, man als Politiker oder Partei in Deutschland aber gewählt wird. An dieser Stelle das Publikum immer wieder neu zu enttäuschen – damit lebt sie. Wie gesagt, Angela Merkel ist keine Politikerin im eigentlichen Sinne.
Die muss sich doch dauernd beidrehen, oder?
Samstag, 12. März 2011, gegen Mittag Berliner Zeit. Im Kernkraftwerk in Fukushima, Japan, ist ein erster Reaktorblock in die Luft geflogen, die Rauchsäule kilometerweit zu sehen. Angela Merkel ruft ihre Vertraute an, Büroleiterin Beate Baumann. Die Kanzlerin sagt zwei Worte: »Das war’s.«
Im Weiteren schlägt Angela Merkel ein selten gesehenes Tempo an. Binnen Tagen ergeht ein sogenanntes »Moratorium« für acht ältere Kernkraftwerke. Schnell wird eine Art Rat der Weisen einberufen, um Moral, Risiko und Zukunft der Atomkraft gesellschaftlich zu diskutieren. Offiziell will Merkel damit
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