Angela Merkel – Die Zauder-Künstlerin (German Edition)
naturgemäß zu ganz anderen Bedingungen als den hiesigen. Trotzdem drehte Merkel ohne Zögern um 180 Grad. Die Zauder-Künstlerin war in dieser Phase nicht mehr. »Das war’s«.
Aber was war’s? Das real existierende Restrisiko der Atomkraftwerke in Deutschland war, wissenschaftlich gesehen, nicht größer und nicht kleiner geworden. Erdbeben und Tsunami gab es in Deutschland weiterhin nicht zu fürchten. Exponentiell gewachsen war dagegen die Ablehnung der Kernkraft in der deutschen Bevölkerung; in Umfragen bekam der Aufschwung der Anti-Atom-Grünen einen neuerlichen großen Schub. Der baden-württembergische CDU -Ministerpräsident Stefan Mappus drängte die Kanzlerin nach dem Unfall in mehreren Telefonaten täglich, ein politisches Zeichen zu setzen: In seinem Bundesland mit mehreren Atomkraftwerken standen Landtagswahlen unmittelbar bevor. Der bayrische Umweltminister Markus Söder, bis dato flammender Anhänger der Atomkraft, verfügte ohne Vorwarnung eine Überprüfung der älteren Anlagen auf bayrischem Gebiet, auch das eine Wendemarke. Entscheidend aber: Angela Merkel hatte kurze Zeit zuvor die Verlängerung der Atom-Laufzeiten gegen eine breite gesellschaftliche (Umfrage-)Mehrheit beschließen lassen und für Schwarz-Gelb eine dauerhaft offene Flanke in Wahlkämpfen in Kauf genommen. Vor der Endlos-Schleife der Bilder aus Fukushima gab Merkel die Sache nun endgültig verloren: »Das war’s.«
Öffentlich aber erklärt sie bis heute nur, dass Fukushima ihr in einer Art Erweckungserlebnis die Augen für das besagte Restrisiko geöffnet hätte. Der Rückgriff auf dieses weitgehend emotionale Motiv macht die Wende noch krasser. Anderen Politikern würde man das vielleicht abnehmen – ihr nicht. Es ist ein Rätsel.
Um dieses Rätsel vielleicht doch noch zu verstehen, muss man weiter zurücktreten, muss man die Zeit vor ihrer Kanzlerschaft einbeziehen. Angela Merkels wirklich entscheidende, strategische Kehrtwende ist nämlich die weg von der Reform-Euphorie der Oppositions-Jahre 2003 bis 2005 hin zur auf Konsens und Ausgleich bedachten Zeit danach, im Kanzleramt. Vom klirrenden »Durchregieren« zum kuscheligen »Durchlavieren«, vom Polarisieren zum Moderieren – das ist die Wende der Angela Merkel, aus der sich alles andere wie von selbst ergibt.
Für sie selbst freilich ist es gar keine Wandlung ihrer Person oder ihres Charakters. Für Angela Merkel ist es rückblickend schlicht eine Konsequenz aus ihrem Bild von Politik und dem dazugehörenden Rollenverständnis. »Form follows function« könnte man sagen, die Form folgt (aus) der Funktion. Das eine, Kantige, gehöre zum Opponieren, findet Angela Merkel. Das andere, Kooperative, zum Regieren. In der einen Sphäre dürfe man alles Mögliche fordern und arbeite weitgehend auf Rechnung der eigenen Partei. In der anderen Sphäre müsse man den Wählern auch liefern, was man ankündige, und schulde daneben dem gesamten Gemeinwesen Rechenschaft. Beides seien getrennte Welten, in denen unterschiedliche Regeln gälten, in denen unterschiedliche Talente und Temperamente gefragt seien. Man sieht Angela Merkel förmlich mit den Schultern zucken, wie sie diesen Gedanken entwickelt. Es ist ihre wichtigste Leitschnur: form follows function. Du bist, was das Amt von dir verlangt. Das jeweilige Amt. Und so, wie Angela Merkel das Wesen von Politik versteht, ist es bezeichnend, dass dieser, ihr Leitsatz aus der Architektur- und Designgeschichte stammt, also eher aus einer Naturwissenschaft als aus einer Geistes- oder Gesellschaftswissenschaft.
Merkels Anhänger aus der Reform-Phase nehmen ihr keine andere Wende so übel wie diese: Sie empfinden es als Verrat, beim Übertritt von Opposition zu Regierung die eigene Festplatte gleichsam neu zu formatieren. Sie empfinden es als Treuebruch gegen alle Pläne und Programme, die man gemeinsam geschmiedet hat, um die deutsche Volkswirtschaft wieder auf Vordermann zu bringen. Dass die deutsche Wirtschaft trotzdem längst ziemlich gut dasteht, besänftigt ihre Wut nicht. Im Gegenteil.
Und so wären es zwei spannende Experimente zu sehen, wie zum einen Angela Merkel 2005 regiert hätte, wenn es für eine schwarz-gelbe Mehrheit gereicht hätte. So radikal wie auf dem Leipziger CDU -Reformparteitag 2003 entworfen? Oder doch eher kooperativ angelegt, in einer Art unerklärter großer Koalition mit den SPD -geführten Bundesländern? Ich bin sicher, sie hätte Letzteres versucht. Und ebenso spannend wäre zu sehen, wie Angela
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