Angélique - Am Hof des Königs
abgesehen?«, rief Mademoiselle und schlug die Hände zusammen.
»Ihre Kutschen sind von Garden umringt, ich glaube, wir brauchen uns keine Sorgen um sie zu machen. Trotzdem werde ich mit dem Polizeileutnant reden.«
Allmählich spürte Angélique die Nachwirkungen des erlittenen Schocks. Sie merkte, wie sie kreidebleich wurde, schloss die Augen und lehnte den Kopf an die gut gepolsterte Rückenlehne der Bank. Der Mann hatte aus allernächster Nähe mitten durch die Scheibe geschossen. Es grenzte an ein Wunder, dass keiner der Insassen verletzt worden war. Sie drückte Florimond an sich. Durch die leichten Kleider des Kindes hindurch spürte sie, dass er abgemagert war, und machte sich Vorwürfe. Er hatte genug von diesen endlosen Reisen und den lauten, aufreibenden Zwischenfällen, die ihn immer wieder aus dem Schlaf rissen.
Er weinte immer noch krampfhaft, und hin und wieder stieß er einen durchdringenden Schrei aus, als wäre er wütend und zornig. Angélique wiegte ihn vergeblich und entschuldigte sich erneut bei den hohen Damen, die ihr in ihrer bequemen Kutsche Zuflucht geboten hatten.
Mademoiselle beruhigte sie nachsichtig.
»Macht Euch keine Gedanken, meine Ärmste. Ihre Majestät und ich wissen, wie es ist, sich mit kleinen Kindern in einer Notlage zu befinden. Während der Flucht des Hofes nach Saint-Germain hatte man mich im Neuen Schloss in einem wunderschönen
Zimmer unter dem Dach untergebracht. Es war hübsch gestrichen, ansprechend vergoldet und recht groß, aber es gab kaum Feuer und keine Scheiben in den Fenstern, was im Januar nicht gerade angenehm ist. Meine Matratzen lagen auf dem Boden, und meine Schwester, die damals kaum älter war als Euer Kleines, hatte kein eigenes Bett und schlief bei mir. Ich musste ihr vorsingen, damit sie einnickte, und selbst dann schlief sie nie lange. Ihr könnt Euch denken, dass sie dadurch auch meinen Schlaf störte. Sie drehte sich hin und her, wachte auf und schrie, sie habe ein Ungeheuer gesehen. Also musste ich wieder singen, bis sie einschlief, und so ging das die ganze Nacht.
Sagt selbst, ist das angenehm für jemanden, der bereits in der vergangenen Nacht in Paris kaum geschlafen hatte und darüber hinaus schon den ganzen Winter unter Halsweh und starkem Schnupfen litt? Und was soll ich Euch sagen: Die Müdigkeit hat mich geheilt …«
Während die Prinzessin redete, hatte Florimond zu weinen aufgehört und fixierte sie mit seinen glänzenden Augen. Als sie verstummte, lächelte er sie an.
»Man könnte ja fast meinen, er hätte verstanden, was ich sagte«, wunderte sich Mademoiselle beglückt.
»Das liegt wohl daran, dass Eure Hoheit so eine angenehme Stimme hat«, sagte Angélique. »Und Eure Art zu plaudern verscheucht alle düsteren Gedanken.«
Auch sie selbst war ruhiger geworden und hatte aufgehört zu zittern. Mademoiselle war gerührt. Bei all den Komplimenten, die man ihr so zahlreich machte, hörte sie dieses nicht oft.
»Um sich von einem bösen Vorfall zu erholen, hilft es manchmal, sich einen noch böseren in Erinnerung zu rufen«, sagte sie. »Dadurch erkennt man an, dass das Leben nun einmal aus Schwierigkeiten besteht, und ich bin glücklich, heute friedlich in dieser Kutsche sitzen zu dürfen und nicht auf der Flucht zu sein.
Wisst Ihr noch?«, wandte sie sich an die Königinmutter, als
wollte sie sie als Zeugin anrufen, »wie hart es damals für uns war? Ich hatte keine Wäsche zum Wechseln. Tagsüber wurde mein Nachtkleid gebleicht und nachts das Hemd, das ich tagsüber trug. Ich hatte keine Zofen, die mein Haar richteten und mich ankleideten, und das war ausgesprochen unbequem. Meine Mahlzeiten nahm ich zusammen mit Monsieur ein, der ein ausgesprochen mürrischer Tischgenosse war. Aber ich ließ mir meine Fröhlichkeit nicht verleiden, und Monsieur bewunderte, dass ich niemals klagte.«
Die Königinmutter schien es nicht zu stören, an diese unruhigen Zeiten erinnert zu werden.
Doch es lag ein Hauch von Verbitterung in ihrer Stimme, als sie über die systematischen Plünderungen sprachen, denen die Karren der Herrscherin auf dem Weg nach Saint-Germain zum Opfer gefallen waren. Darunter waren auch drei Wagen mit Möbeln, Betten, Wandteppichen, Wäsche, Kleidung und silbernem Geschirr gewesen, die der Pöbel des Faubourg Saint-Antoine unter lautem Geschrei angegriffen hatte.
»Wart Ihr mir nicht ungemein dankbar, als Ihr Euch endlich wieder ordentlich kleiden konntet?«, fragte Mademoiselle, die keine Gelegenheit ausließ,
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