Angélique - Am Hof des Königs
Parlamentsrats oder Prokurators zu richten.
Kapitel 20
A ngélique schritt durch die düsteren Reihen der Kathedrale. In ihren alten, abgelaufenen Schuhen schlurften die Mesner umher, richteten Kelche und Kännchen auf den Altären an, füllten die Weihwasserbecken und polierten die Kerzenleuchter.
Sie betrat den ersten Beichtstuhl, an den sie kam. Mit klopfenden Schläfen beichtete sie, die Sünde des Ehebruchs begangen zu haben. Nachdem sie die Absolution erhalten hatte, hörte sie die Messe und bestellte anschließend drei Seelenämter für ihre Zofe Marguerite.
Als sie wieder draußen auf dem Kirchenvorplatz stand, fühlte sie sich ruhiger. Die Zeit der Skrupel war vorüber. Jetzt würde sie nicht verzweifeln, sondern darum kämpfen, Joffrey aus dem Gefängnis zu befreien.
Bei einem Straßenhändler kaufte sie ein paar noch ofenwarme Oblaten und begann zu essen. Dabei schaute sie sich um. Auf dem Platz vor der Kathedrale herrschte bereits reges Treiben. Karossen brachten adlige Damen zu den nachfolgenden Messen, denn in Notre-Dame wurden zahlreiche Gottesdienste gefeiert.
Vor den Türen des Armenhospitals Hôtel-Dieu legten Nonnen die in Leichentücher eingenähten Toten dieser Nacht in eine Reihe. Ein zweirädriger Karren würde sie später abholen und zum Friedhof der Saints-Innocents bringen.
Obwohl der Platz vor der Kathedrale inzwischen von einem niedrigen Mäuerchen umschlossen war, herrschte darauf immer
noch das gleiche malerische Durcheinander, das ihn einst zum beliebtesten Platz von Paris gemacht hatte.
Die Bäcker verkauften hier immer noch das Brot der vergangenen Woche zu niedrigen Preisen an die Armen. Und die Schaulustigen versammelten sich immer noch vor dem Großen Faster, jener riesigen mit Blei überzogenen Gipsstatue, die schon seit Jahrhunderten an dieser Stelle stand. Niemand wusste, wen dieses Denkmal darstellte: ein Mann, der in der einen Hand ein Buch hielt und in der anderen einen Stab, um den sich Schlangen wanden.
Das war die berühmteste Figur von Paris. Angeblich konnte er in Zeiten des Aufruhrs sprechen, um die Wünsche des Volkes kundzutun, und unzählige Spottgedichte waren in Umlauf, alle unterzeichnet vom »Großen Faster von Notre-Dame«.
»Hört den Prediger auf seinem Thron,
gemeinhin der Faster genannt,
Denn die Geschichte weiß, seit tausend Jahren schon
Weder Speis’ noch Trank den Weg zu ihm fand.«
Und hier auf dem Kathedralenvorplatz waren über die Jahrhunderte hinweg auch all die Verbrecher im Büßerhemd und mit der Wachskerze zu fünfzehn Livres in der Hand vorbeigezogen, um vor Notre-Dame Abbitte zu leisten, ehe sie verbrannt oder aufgehängt wurden.
Angélique erschauerte bei dem Gedanken an die Prozession der finsteren Schemen.
Wie viele waren hier unter dem grausamen Geschrei der Menge vor den alten steinernen Heiligen niedergekniet?
Sie schüttelte den Kopf, um diese trübsinnigen Gedanken zu verscheuchen, und wollte sich gerade auf den Rückweg zum Haus des Prokurators machen, als sie von einem Geistlichen in Stadtkleidung angesprochen wurde.
»Madame de Peyrac, ich grüße Euch. Ich wollte gerade zu Maître Fallot, um mit Euch zu reden.«
»Ich stehe zu Eurer Verfügung, Abbé, aber ich kann mich im Augenblick leider nicht an Euren Namen erinnern.«
»Wirklich nicht?«
Der Abbé lüpfte seinen breitkrempigen Hut, und mit der gleichen Bewegung nahm er auch eine kurze graumelierte Rosshaarperücke ab. Verblüfft erkannte Angélique den Advokaten Desgrez.
»Ihr? Wozu diese Verkleidung?«
Der junge Mann hatte Perücke und Hut wieder aufgesetzt.
»Weil gestern ein Kaplan in der Bastille benötigt wurde«, flüsterte er.
Er zog eine kleine Tabakdose aus Horn unter den Schößen seines Rocks hervor, schnupfte, nieste einmal und schnäuzte sich.
»Na, wie findet Ihr das?«, fragte er Angélique anschließend. »Wirkt das nicht unglaublich echt?«
»Doch, sicher. Ich habe mich ja selbst täuschen lassen. Aber … sagt mir, habt Ihr es wirklich geschafft, in die Bastille zu gelangen?«
»Psst! Lasst uns in die Schreibstube von Maître Fallot gehen. Dort können wir ungestört reden.«
Auf dem Weg dorthin kostete es Angélique große Mühe, ihre Ungeduld zu zügeln. Hatte der Advokat endlich etwas herausgefunden? Hatte er Joffrey etwa gesehen?
In der würdevollen, bescheidenen Haltung eines frommen Kaplans ging er gemessenen Schrittes neben ihr her.
»Kommt es in Eurem Gewerbe häufiger vor, dass Ihr Euch so verkleidet?«, fragte
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