Angélique - Am Hof des Königs
stehen.
Joffrey!
Was hat das alles zu bedeuten, fragte sie sich. Wo ist er? Wo ist er?
Verzweifelt wünschte sie sich, er wäre hier, bei ihr. Aber er war nicht da!
Plötzlich schien ihr, als würde sie ihren Lebensatem erst wiederfinden, wenn Joffrey wieder vor ihr stünde und sie sich von seiner Gegenwart überzeugen könnte.
Sie schwankte.
Sie versank in ewiges Dunkel.
Jetzt verstand sie, wie die schöne Aude im »Rolandslied« einfach sterben konnte, als sie vom Tod des tapferen Roland erfuhr.
Aber Joffrey war nicht tot! Nur verschwunden. Bald... Bald würde sich eine Erklärung für das alles finden. Eine ganz einfache Erklärung! Eine normale Erklärung!
So zumindest redete Péguilin unablässig auf sie ein wie eine haltlos kreisende Windmühle. Sie fasste sich wieder, und ihr Schwindelgefühl legte sich.
Péguilin brachte sie zurück zu ihrer Unterkunft.
Bevor er sich verabschiedete, versprach er ihr, sich noch ein
wenig umzuhören und dann am nächsten Morgen wiederzukommen.
Als Angélique hineinging, hoffte sie verzweifelt, ihr Gemahl würde auf sie warten, doch sie fand nur Marguerite vor, die auf den schlafenden Florimond aufpasste, während die alte Tante, die sie bei all den Festlichkeiten ganz vergessen hatten, die Treppen hinauf- und hinabschlurfte. Alle anderen waren zum Tanzen in die Stadt gegangen. Nicht eine Fensterscheibe war zerbrochen worden, es hatte bloß ein wenig Radau auf der Straße gegeben.
Sie streifte lediglich ihre Schuhe und Strümpfe ab und ließ sich vollständig angezogen auf ihr Bett fallen. Ihre Füße waren von dem wilden Lauf durch die Stadt, auf den Lauzun sie mitgezerrt hatte, geschwollen. Ihr Kopf war völlig leer, sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Ich werde morgen nachdenken, dachte sie und sank in einen bleischweren Schlaf.
Ein Rufen von der Straße her weckte sie wieder auf.
»Médême! Médême...!«
Der Mond stand über den Dächern. Vom Hafen und dem Marktplatz drang noch Geschrei und Gesang herüber, aber ihr Viertel war ruhig, fast alle schliefen nach dem anstrengenden Tag.
Angélique stürzte hinaus auf den Balkon und entdeckte Kouassi-Ba, der draußen im Mondschein stand.
»Médême! Médême …!«
»Warte, ich komme und mache dir auf.«
Ohne sich die Zeit zu nehmen, ihre Schuhe wieder anzuziehen, hastete sie nach unten, zündete im Flur eine Kerze an und zog die Tür auf.
Mit einem geschmeidigen Sprung glitt der Schwarze herein. In seinen Augen lag ein eigenartiger Glanz, und sie sah, dass er zitterte, als erwachte er gerade aus einer Trance.
»Wo kommst du her?«
»Von dort unten«, antwortete er mit einer unbestimmten Geste. »Ich brauche ein Pferd. Schnell, ein Pferd!«
Seine Zähne entblößten sich zu einer wilden Grimasse.
»Mein Herr wurde angegriffen«, flüsterte er. »Und ich hatte meinen großen Säbel nicht dabei. Oje, warum hatte ich heute nur meinen großen Säbel nicht dabei?«
»Was soll das heißen, ›angegriffen‹, Kouassi-Ba? Wer?«
»Ich weiß es nicht, Herrin. Woher soll ich das wissen, ich armer Sklave? Ein Page hat ihm einen kleinen Zettel gebracht. Der Herr ist hingegangen. Ich bin ihm gefolgt. Es waren nicht viele Leute im Hof des Hauses, nur eine Kutsche mit schwarzen Vorhängen. Männer kamen daraus hervor und haben ihn umzingelt. Der Herr zog sein Schwert. Daraufhin kamen noch mehr Männer. Sie haben ihn geschlagen und in die Kutsche gezerrt. Ich habe mich an die Kutsche geklammert. Zwei Knechte standen hinten auf dem Trittbrett. Sie haben so lange auf mich eingeschlagen, bis ich heruntergefallen bin. Aber einen von ihnen habe ich mitgerissen und erwürgt.«
»Du hast ihn erwürgt?«
»Mit meinen eigenen Händen, so«, sagte er, wobei er seine rosigen Handflächen öffnete und schloss wie eine Zange. »Ich bin den ganzen Weg zurückgelaufen. Aber die Sonne war so heiß, und ich habe solchen Durst, dass meine Zunge inzwischen größer ist als mein Kopf.«
»Trink erst einmal etwas, danach kannst du weiterreden.«
Sie folgte ihm in den Stall, wo er nach einem Eimer mit Wasser griff und gierig daraus trank.
»Jetzt nehme ich ein Pferd«, sagte er und wischte sich die dicken Lippen ab, »und verfolge sie. Ich werde sie alle mit meinem großen Säbel töten.«
Er wühlte im Stroh und zog sein kleines Bündel und seinen Krummsäbel hervor. Während er die zerrissene, staubige Satinkleidung
abstreifte und eine schlichtere Livree anzog, ging Angélique mit zusammengebissenen Zähnen in den Stand und
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