Angelique Der Gefangene von Notre Dame
Hölle.
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Dieser widerliche Saal, in dem der Geruch von Exkrementen und Blut dicht wie Nebel in der Luft hing, war erfüllt von Weinen, Stöhnen und Klagen, ganz wie in einem Albtraum. Das schrille Weinen der Säuglinge hörte nie auf. Es war wie eine endlose, eintönige Psalmodie, die manchmal anschwoll, dann verstummte und am anderen Ende des Raums wieder aufgenommen wurde.
Trotz der rollenden Kohlenpfannen, die an den Kreuzungen der Gänge standen, war es eiskalt, denn ihre Wärme wurde vom Luftzug zerstreut.
Angélique erfuhr am eigenen Leib, woher die tief verwurzelte Angst der Armen vor dem Hospital rührte.
War das nicht das Vorzimmer des Todes?
Wie sollte man in dieser Ansammlung von Krankheiten und
Unrat überleben, wo die Genesenden gleich neben den Ansteckenden lagen, wo die Chirurgen auf schmutzigen Tischen operierten, und das mit den gleichen Rasiermessern, mit denen sie ein paar Stunden zuvor in ihren Läden den Kunden aus ihrem Viertel den Bart gestutzt hatten?
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Der Morgen dämmerte. Die Glocken riefen zur Messe. Angélique erinnerte sich an die Toten aus dem Hôtel-Dieu, die die Nonnen um diese Zeit vor dem Portal ablegten, damit sie von einem Kippkarren abgeholt werden konnten, der sie zum Friedhof der Unschuldigen Kinder bringen sollte. Vielleicht würden die wärmenden Strahlen der Wintersonne auf die gotische Fassade des alten Hospitals fallen, aber die Glieder der armen, in ihr Leichentuch eingenähten Toten würden davon nicht wieder lebendig werden.
Am Ufer der Seine, jener breiten WasserstraÃe, die Paris versorgte und ihr gleichzeitig als Abfluss diente, erwartete das in Flussnebel gehüllte Hôtel-Dieu den Tag wie ein mit verfluchter Fracht beladenes Schiff.
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Eine Hand zog die Vorhänge zurück. Zwei in fleckige grobe Kittel gekleidete Krankenpfleger warfen einen Blick auf die drei Patientinnen in dem Bett, packten die Frau mit der Blutung und legten sie auf eine Trage. Angélique sah, dass die Ãrmste gestorben war. Auf der Trage lag auch die Leiche eines Kindes.
Angélique richtete den Blick auf ihr eigenes Kind, das sie an sich drückte. Warum schrie es nicht? War es auch tot? Nein, es schlief nur, die Fäuste fest geschlossen, mit jenem lustigen, friedlichen Gesichtsausdruck der Neugeborenen. Es schien nicht die leiseste Ahnung zu haben, dass es ein Kind des Leids und des Niederganges war. Sein Gesicht glich einer Rosenknospe, und sein Kopf war von blondem Flaum bedeckt. Aber Angélique schüttelte es unentwegt vor Angst, es könne tot sein oder
im Sterben liegen. Dann öffnete es kurz die blauen Augen und schlief gleich wieder ein.
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Die Nonnen beugten sich über die Betten der anderen Wöchnerinnen. Sie waren sicher sehr aufopferungsvoll und bewiesen einen Mut, der seinen Ursprung nur bei Gott haben konnte. Aber die mangelnde Hygiene stellte sie vor unlösbare Probleme.
Von glühendem Lebenswillen erfüllt, zwang sich Angélique, den Inhalt einer Schale zu trinken, die man ihr reichte.
Dann versuchte sie, ihre fiebernde Nachbarin und das mit Blut vollgesogene Strohlager zu vergessen und im Schlaf ein wenig Kraft zu finden. Undeutliche Visionen zogen vor ihren geschlossenen Augen vorbei. Sie dachte an Gontran. Er wanderte irgendwo in Frankreich auf einer StraÃe dahin; er blieb an einer Brücke stehen, um den Brückenzoll zu zahlen, und um seine Börse zu schonen, zeichnete er ein Porträt des Zöllners...
Warum kam ihr Gontran in den Sinn, der zu einem armen Wandergesellen geworden war, aber zumindest unter dem klaren Himmel dahinschritt? Gontran glich den Chirurgen, die sich in einem der anderen Säle über einen schmerzenden Körper beugten, von dem leidenschaftlichen Drang erfüllt, in ihm einen Blick auf das Geheimnis von Leben und Tod zu erhaschen. In ihrem von allen irdischen Dingen losgelösten Wachtraum erkannte Angélique, dass Gontran zu den wertvollsten Menschen der Welt gehörte... genau wie diese Chirurgen... In ihrem Kopf verschwamm alles. Warum waren die Chirurgen bloà arme Barbiere, nicht sonderlich hoch geachtete Ladenbesitzer, wo sie doch eine so wichtige Rolle spielten? Warum war Gontran, der eine ganze Welt in sich trug und die Begeisterung von Königen zu wecken vermochte, nur ein armer, hart arbeitender Handwerker ohne jedes gesellschaftliche Ansehen? Warum kamen ihr so viele unnütze Dinge in den Sinn, während sie alle
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