Angelique Der Gefangene von Notre Dame
Kräfte aufbieten musste, um der Hölle zu entrinnen?
Angélique blieb nur vier Tage im Hôtel-Dieu.
Unerbittlich verlangte sie für sich die besten Decken und verbot der Hebamme mit den schmutzigen Fingern, sie oder ihr Kind zu berühren. Statt einer nahm sie jedes Mal zwei Schalen mit Essen von den Tabletts. Eines Morgens riss sie einer Nonne die saubere Schürze herunter, die diese vor ihr Kleid gebunden hatte, und während die arme Novizin davonrannte, um die Oberin zu holen, riss sie den Stoff in Fetzen und machte daraus Binden, um ihr Kind zu wickeln und sich selbst zu verbinden.
Auf die Vorwürfe reagierte sie mit grimmigem Schweigen und bedachte die beiden Nonnen mit einem hochmütigen, erbarmungslosen Blick aus ihren grünen Augen, der sie verstummen lieÃ.
»Ich glaube, das Mädchen mit den grünen Augen ist eine Wahrsagerin!«, sagte eine Zigeunerin, die im gleichen Saal lag, zu ihren Nachbarinnen.
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Sie sprach nur ein einziges Mal, und zwar als einer der Verwalter des Hôtel-Dieu, ein parfümiertes Taschentuch vor der Nase, persönlich an ihr Bett kam, um ihr Vorwürfe zu machen.
»Mein Kind, wie ich höre, weigert Ihr Euch, das Bett, das die öffentliche Wohltätigkeit Euch gewährt, mit einer weiteren Kranken zu teilen. Ihr sollt bereits zwei, die zu schwach waren, sich zu wehren, auf den Boden geworfen haben. Tut Euch dieses Verhalten denn nicht leid? Das Hôtel-Dieu muss alle Kranken aufnehmen, die hierher gebracht werden, und es gibt nicht genügend Betten.«
»Dann solltet Ihr die Kranken, die man Euch schickt, lieber gleich in ihre Leichentücher einnähen!«, versetzte Angélique unwirsch. »In den von Monsieur Vincent gegründeten Spitälern hat jeder Kranke sein eigenes Bett! Aber Ihr wolltet ja nicht, dass man die unwürdigen Praktiken hier verbessert, weil Ihr dann Rechenschaft über Eure Verwaltung ablegen müsstet. Wohin flieÃen
denn all die Gaben der wohltätigen Bürger, von denen Ihr gesprochen habt? Was ist mit den Zuschüssen des Staates? Man könnte meinen, die Bürger seien nicht sehr groÃzügig und der Staat recht arm, wenn Ihr von dem Geld nicht einmal genügend Stroh kaufen könnt, um die Unglücklichen frisch zu betten, die sich beschmutzen und die Ihr auf ihrem Misthaufen verfaulen lasst! Oh, ich bin mir sicher, wenn der Schatten von Monsieur Vincent eines Tages ins Hôtel-Dieu zurückkehrt, wird er vor Kummer weinen!«
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Hinter seinem Taschentuch riss der Verwalter verwundert die Augen auf. In den fünfzehn Jahren, in denen er schon verschiedene Abteilungen des Hôtel-Dieu leitete, waren ihm sicher einige aufmüpfige Patienten untergekommen, Fischweiber mit ihrem groÃen Mundwerk etwa oder unflätige Prostituierte. Aber noch nie hatte er von diesen ärmlichen Lagern eine so klar formulierte Antwort, eine so gepflegte Sprache gehört.
»Frau«, sagte er und richtete sich mit der ganzen Würde seines Amtes auf, »ich entnehme Euren Worten, dass Ihr kräftig genug seid, um nach Hause zurückzukehren. Verlasst also diese Zuflucht, deren Wohltaten Ihr nicht anerkennen wollt.«
»Das werde ich mit Freuden tun«, entgegnete Angélique scharf. »Aber vorher verlange ich, dass meine Kleider, die man mir ausgezogen hat, als ich hier angekommen bin, und die zusammen mit den Lumpen von Pockenkranken, Syphilitikern und Pestkranken auf einen Haufen geworfen wurden, vor meinen Augen in sauberem Wasser gewaschen werden. Sonst werde ich dieses Hospital im Hemd verlassen und auf dem Vorplatz von Notre-Dame kundtun, dass die milden Gaben der GroÃen und die Zuschüsse des Staates geradewegs in die Taschen der Verwalter des Hôtel-Dieu wandern. Ich werde Monsieur Vincent anrufen, das Gewissen des Königreichs. Ich werde so laut schreien, dass der König persönlich verlangen wird, die Abrechnungen dieses Spitals zu überprüfen.«
»Wenn Ihr das tut«, sagte er und beugte sich mit grausamer Miene über sie, »dann lasse ich Euch festnehmen und zusammen mit den Verrückten einsperren.«
Sie zitterte, wandte den Blick jedoch nicht ab. Sie erinnerte sich daran, was die Zigeunerin über sie gesagt hatte â¦
»Wenn Ihr auch noch dieses schändliche Verbrechen begeht, dann garantiere ich Euch, dass Eure ganze Familie vor Ablauf eines Jahres sterben wird.«
Es schadet ja nichts, so etwas zu
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