Angelique Der Gefangene von Notre Dame
sie sich nun dreht oder nicht!«
»Nein, meine Schwester! Er hat mich immer wieder angewiesen: âºSagt Ihr, dass ich sie liebe. Sie hat mich zum glücklichsten Mann der Welt gemacht. Leider werde ich nur eine Etappe in ihrem Leben sein, aber ich zweifle nicht daran, dass sie ihren Weg gehen wird...â¹ Und dann hat er noch gesagt, dass Ihr das Kind, das bald zur Welt kommt, Cantor nennen sollt, wenn es ein Junge wird, und Clémence, wenn es ein Mädchen ist.«
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Cantor de Marmont, ein Troubadour aus dem Languedoc, Clémence Isaure, die Muse der Blumenspiele von Toulouse â¦
Wie fern das alles war! Wie unwirklich angesichts der entsetzlichen, dunklen Stunden, die Angélique durchlebte. Sie machte sich auf den Weg zurück in den Temple, doch sie konnte kaum gehen. Eine Weile konzentrierte sie sich noch auf ihren Groll gegen Joffrey. Er hielt sie aufrecht. Natürlich war es Joffrey egal gewesen, dass sie vor Schmerz und Tränen verging. Was für einen Wert hatten denn schon die Gedanken einer Frau, wenn er auf der anderen Seite des Lebens endlich die Antwort auf all die Fragen finden würde, die seinem gelehrten Geist keine Ruhe gelassen hatten...?
Doch unvermittelt strömten Tränen über Angéliques Gesicht, und sie musste sich gegen eine Mauer lehnen, um nicht zu fallen.
»O Joffrey, mein Geliebter!«, flüsterte sie. »Jetzt weiÃt du endlich, ob sich die Erde dreht oder nicht...! Werde glücklich in der Ewigkeit!«
Der stechende körperliche Schmerz wurde unerträglich. Sie spürte, wie in ihrem Inneren etwas zerriss. Da begriff sie, was mit ihr geschah. Ihre Fruchtblase war geplatzt. Das Kind kam.
Sie war noch weit vom Temple entfernt. Bei ihrer gedankenverlorenen Wanderung war sie vom Weg abgekommen. Sie sah, dass sie vor dem Pont Notre-Dame stand.
Ein zweirädriger Karren fuhr gerade auf die Brücke.
»Ich bin krank«, rief Angélique dem Fahrer zu. »Könnt Ihr mich zum Hôtel-Dieu bringen?«
»Ich bin sowieso auf dem Weg dorthin. Ich muss da eine Fuhre für den Friedhof abholen. Ich fahre die Leichen. Steigt ruhig auf, meine Schöne.«
Kapitel 21
W elchen Namen wollt Ihr ihm geben, meine Tochter?«
»Cantor.«
»Cantor! Das ist doch kein christlicher Name.«
»Das ist mir egal«, erwiderte Angélique. »Gebt mir mein Kind.«
Aus den Armen der Hebamme nahm sie das kleine, rote, noch feuchte Wesen entgegen. Das Mannweib, das es auf Erden in Empfang genommen hatte, hatte es in einen schmutzigen Lumpen gewickelt.
Der Tag war noch nicht vorüber, die mit Lilien verzierte Uhr am Justizpalast hatte noch nicht Mitternacht geschlagen, und das Kind des Gemarterten war geboren.
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Angéliques Herz war zerbrochen. Ihr Körper schmerzte fürchterlich, ihr waren sämtliche Eingeweide herausgerissen worden. Ãberall war ihr Blut geflossen, sowohl in ihrem Herzen als auch aus ihrem Leib. Angélique war mit Joffrey gestorben. Und zusammen mit dem kleinen Cantor war auch eine neue Angélique geboren, eine andere Frau, in der nur noch mit Mühe einige Reste der eigenartigen Sanftmut und Arglosigkeit der früheren Angélique überlebten.
Die Wildheit und Härte, die in dem undisziplinierten kleinen Mädchen von Monteloup gepocht hatten, nahmen in ihr neue Gestalt an. Wie ein schwarzer Fluss strömten sie durch die offene Bresche ihrer Verzweiflung und ihres Grauens.
Mit einer Hand stieà sie ihre Nachbarin von sich, ein zartes, glühendes Geschöpf, das in einem milden Delirium vor sich hin fantasierte. Die dritte Frau in ihrem Bett, die dabei an den Rand geschoben wurde, protestierte. Sie litt an einer langsamen Blutung, die seit dem Morgen andauerte. Der schale Geruch ihres Blutes, mit dem sich das Strohlager nach und nach vollgesogen hatte, war ekelerregend.
Angélique zog eine zweite Decke zu sich her. Wieder protestierte die dritte Patientin schwach.
Die beiden werden sowieso sterben, dachte die junge Mutter. Da ist es doch besser, dass mein Kind und ich versuchen, uns ein wenig warm zu halten und lebend hier herauszukommen.
Sie hatte die Augen geöffnet und schaute sich mit verstörtem Blick um. Durch die zerrissenen Vorhänge des ärmlichen Bettes sah sie in der von fauligen Dünsten erfüllten Dunkelheit das helle Gelb der Talglichter.
Wie seltsam, dachte sie bei sich. Denn Joffrey war gestorben, aber Angélique war in der
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